Von Hirschgarten nach Köpenick Bahnhof — I.

Berlin verwan­delt sich schnell in Land­schaft. Die Häuser am Hirsch­sprung, der für die Auto­fah­rer als Sack­gasse endet, aber nicht für die Fußgän­ger, die zur Wiesen­pro­me­nade weiter­ge­hen, sehen förs­t­erlich aus, kunst­schrift­stel­le­risch, ich stelle mir hier Chris­toph Meckel vor oder den Vater von Chris­toph Meckel, viel­leicht passt auch Günter de Bruyn, Land­schaft vorm Fens­ter, Fouqué im Regal. Die Zahn­ärz­tin Sabine Trie­bel hat hier gebaut; es muss beru­hi­gend sein, bei ihr im Behand­lungs­stuhl zu sitzen, man sieht auf die Weiden des Erpe­tals oder in den Himmel darüber mit aufge­ris­se­nem Munde. Am Ende der Prome­nade, die aber einfa­cher einfach ein Spazier­weg heißt, ein Jugend- und Kultur­zen­trum, die Rollä­den unten, es ist vormit­tags, die Jugend ist in der Schule, Kultur findet jetzt dort statt, hoffent­lich.

Der Eingang — man kann wiklich Eingang sagen — zur Seelen­bin­der­straße ist exem­pla­risch. Es kommt nun bis zum Bran­den­burg­platz ein Stra­ßen­stück, das aus den Zeiten heraus­führt: eine Brücken­straße sozu­sa­gen, wie nach­her auch die Fried­richs­ha­ge­ner Straße: aus einer Zeit in eine andere, auf der Nord­seite die verlas­se­nen und sich mit neuen Mittel­stand füllen­den Werk­hal­len, auf der Südseite Regina’s Massa­ge­sa­lon im post­mo­dern reno­vier­ten Haus und die Wohn­blocks der KöWoGe mit den weißen Brief­kas­ten­häus­chen vor den Türen. Dem rech­ten Mittel­stand wünsche ich guten Flie­sen­ver­kauf, über­haupt lukra­tive Geschäfte, den linken Menschen Liebes-Briefe im Kasten, über­haupt fröh­li­che Kommu­ni­ka­tio­nen. Die Hallen­an­lage endet am Bran­den­burg­platz in einem Indus­trie­bau aus versam­mel­ter Archi­tek­tur, epochen­weit vor jeder Post­mo­derne. Verlas­sen jetzt von seiner ursprüng­li­chen Indus­trie­be­stim­mung und umbe­nannt in “Gewer­be­hof Seelen­bin­der­straße”, bietet das vom weit­be­kann­ten Immo­bi­lien-Ehepaar Sauer umge­wid­mete Gebäude-Ensem­ble “Büro‑, Hallen- und Gewer­be­flä­chen”. Der Inter­na­tio­nale Bund für Sozi­al­ar­beit ist schon da, auch eine “Fitness Factory”: sollen wir an Andy Warhol denken? Ich kann mir den Happe­ning-Künst­ler hier vorstel­len.
Die Uhr auf dem Sockel im klei­nen Vorgärt­chen steht auf 10 vor 9, die Uhr auf dem Türm­chen auf 10 vor 8: als ob es immer noch Zeit wäre, recht­zei­tig zur Arbeit zu kommen. Der wilde Misch­lings­hund der gut ausge­mal­ten Frau, die den Platz gerade über­quert, bellt den gelben Brief­trä­ger an. “Schämst du dich nicht!”, ermahnt sie ihn vorwurfs­voll. Je länger ich auf dem Bran­den­burg­platz stehe, umso zentra­ler erscheint er mir. Nicht nur wegen der regen Autos, die aus der Belle­vue­straße in die Seelen­bin­der­straße nach Westen einbie­gen und umge­kehrt, diese beiden Stra­ßen verbin­dend zu einem Stra­ßen­zug und also die Seelen­bin­der­straße in einen Ost- und einen West­teil tren­nend. Gemüt­lich­keit, sagen wir hier: Hirsch­gar­ten­haf­tig­keit verbrei­ten Autos natür­lich nicht, aber doch die maschi­nelle Beweg­lich­keit, die wir längst für das eigent­li­che Zeichen gesell­schaft­li­cher Leben­dig­keit nehmen.

Nach der Karte habe ich gedacht, es führte vom Bran­den­burg­platz ein im flachen S hinge­brei­te­ter ruhi­ger Spazier­weg zur Fried­richs­ha­ge­ner Straße. Die Wirk­lich­keit iden­ti­fi­ziert den Spazier­gang der Einbil­dung als ein Eisen­bahn­gleis, das aus dem Indus­trie­areal heraus­führt und hinüber und hinun­ter zum Wasser wahr­schein­lich, wo die Barken ange­lan­det waren, die die Indus­trie­gü­ter auf sach­ten Wassern in die Welt verschiff­ten. Das Gleis ist verödet. Keine Waggons mehr. “Perso­nen­durch­gang verbo­ten” steht auf verblas­sen­dem Schild. Das Verbot könnte man jetzt doch aufhe­ben. Aus der vergan­ge­nen Indus­trie­land­schaft, die ins Dienst­leis­tungs- und Sozi­al­ge­werbe umfi­nan­ziert wurde, gelange ich direkt in die wirk­li­che Land­schaft, in der ich die Auto­ge­räu­sche immer noch hören würde, bewahrt davor, in Idylle zu verfal­len, aber trotz­dem auf einem Weg, der zwischen Vergan­gen­heits-Sehn­sucht und Zukunfts-Unsi­cher­heit geschichts­los in die Freu­den der Hütten führte. Auf diesem Spazier­gang gelangte man fast direkt in Stin­nes BauMarkt, Markt groß geschrie­ben, im “Kauf­land”, Rotgrün ist die Landes­farbe dieses Landes, mit dessen preis­wer­ten Erzeug­nis­sen wir unsere Privat­heit ausschmü­cken können, wie es alle ande­ren auch tun. Honda-Früh­stück, am 1. Februar um 9 Uhr, ist die Verhei­ßung vom Auto­haus Karge, das auf einem brei­ten Plakat “Full-Service” anbie­tet in einem Schrift­zug wie aus dem Horror­film. Das ist ein Zeit­geist­ge­schäft. Das gehört hier­her, zu unse­rem Leben, das uns im PS-star­ken Blech­kas­ten ein Verspre­chen der Beweg­lich­keit gibt bis zur nächs­ten Ampel, zum nächs­ten Stau.
Wo das Gleis über die Seelen­bin­der­straße führt, mitten auf der Straße, unter einer geschütz­ten Eiche, bleibe ich, Autos vor und hinter mir, einen Moment stehern, versu­che den Augen­blick fest­zu­hal­ten mitten in der Verän­de­rung, nach­den­kend über den schö­nen bild­li­chen Namen, den der anti­fa­schis­ti­sche Sport­ler dieser Straße gege­ben hat. Die Gegend sieht erst gar nicht so aus, als ob sie Seelen binden könnte. Nach einer Weile tut sie’s doch. Weiter unten in der Fried­richs­ha­ge­ner Straße wieder­holt sie dasselbe Thema.
Darüber das nächste Mal.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

GodeN­eh­ler, CC BY-SA 4.0

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