Zerbrochene Spiegel

Ich komme die Schnel­ler­straße herauf, vom S‑Bahnhof Schö­ne­weide. Vom Adler des Reiches ist an der Ex-Feuer­wa­che Ecke Hassel­wer­der­straße nur noch ein Schat­ten im Giebel zu sehen. Kristina’s Haar­stu­dio ist offen für Ihre Ideen, Lothar Bisky ist für Trep­tow und Köpe­nick, wer nicht Bundes­kanz­ler werden will, kommt zu ihm; die Biblio­theks­mit­ar­bei­ter, die umzie­hen, wünschen mir einen schö­nen Lese­som­mer.
Über­haupt erst mal einen Sommer, denke ich, während ich an dem klei­nen Platz stehen­bleibe, den Schneller‑, Britzer‑, Hain­straße mitein­an­der bilden und wo die Sied­lung anfängt, die Mebes hier gebaut hat, zum Wasser hin. Nach­dem ich sie an ande­rer Stelle beschrie­ben hatte, da habe ich Post gekriegt, dass ich mal schrei­ben soll: reno­viert müsste werden. Drei Eckhäu­ser sehen geschlos­sen aus, die Läden sind ausge­zo­gen, “Schuhe bitte hier einwer­fen!” steht an dem Contai­ner, wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis auf die Schuhe; eine abblät­ternde Gegend, aber Blumen auf acht Balko­nen, manch­mal sehr auto­laut, dann plötz­lich still … nein, still kann man nicht sagen: an- und abschwel­len­der Auto­ge­sang; der 165er biegt um die Ecke, Rich­tung Ober­spree; ich lehne an dem rot-weißen Gitter, das in der begin­nen­den Brit­zer Straße Park­plätze für Quer­par­ker schafft, dicht bei den Glocken­con­tai­nern des Grünen Punk­tes, sonn- und feier­tags darf kein Glas einge­wor­fen werden, es ist Donners­tag. Die Sonne kommt hervor.
Ich bin zufrie­den, dass ich hier stehen kann, nicht weil es hier so schön ist, hier ist es wie anderswo, sondern weil ich mir Zeit nehmen kann zur Betrach­tung, muss nicht rufen: “Diet­her Huhn für Trep­tow und Köpe­nick” oder andere Ehrgeize befrie­di­gen. Die Straße heißt nicht nach einem Impera-/Kom­pa­ra­tiv, sondern nach einem Mann, Ernst Schnel­ler, Tod in Sach­sen­hau­sen. Vergan­gen, verges­sen; wäre ich selbst mutig?
Auch noch, wenn es zu spät ist? Die Gedan­ken laufen mir aus dem Ruder. Plötz­lich denke ich daran, dass ich ster­ben muss. Witt­gen­stein sagt: Woher weißt du das? Ich kann es nicht wissen, aber es könnte jetzt gleich sein, hier, an diesem rot-weißen Gitter­chen; ich über­lege, ob die Umge­bung ein Bild meines Lebens abgäbe für die letz­ten Blicke meiner Augen: nicht glän­zend, reno­vie­rungs­be­dürf­tig, ein paar Blumen, Bemü­hun­gen, mal laut, mal leiser.

Ich reiße mich am Riemen, schüttle die endli­chen Gedan­ken von mir ab und trage meine Melan­cho­lie das Stück­chen die Brit­zer aufwärts, bis sie in einer klei­nen Bank­an­lage an der Spree endet. Ich setze mich auf das unge­stri­chene Holz, neben mir zwei Hunde­be­sit­ze­rin­nen, die ihre Hunde wech­sel­sei­tig herzen. Ein Boots­ha­fen, klei­nere und größere Boote, billige und ganz teure, schwap­pen auf und ab im leich­ten Wellen­schlag der Spree. Links neben der Bank stirbt eine Taube.
MS Thürin­gen der Stern- und Kreis-Schiff­fahrt kommt vorüber, schwach besetzt. Ein Höcker­schwan schwimmt heran und betrach­tet mich. Ich denke an den Sing­schwan auf der Ober­trave in Lübeck, den ich aus meinem Wohn­zim­mer­fens­ter beob­ach­ten konnte. Ob er noch lebt? Ein Ehepaar mit Dackel verweilt.
“Du musst ihn natür­lich Männ­chen machen lassen”, sagt die Frau mürrisch zum Gatten, als sie weiter­ge­hen.
“Was iss’n da dabei?”
“Dass du immer was bewei­sen musst! Lass uns doch einfach hier lang gehen. Ohne Kunst­stück­chen.”
Hinter den Pappeln und Robi­nien ist das Boots­haus nicht zu sehen. Es ist auch von drin­nen, aus dem Hof der Schau­spiel­schule Ernst Busch, nicht zu sehen. Weil es gar nicht mehr da ist. 1897 heißt es, hat der Ruder­ver­ein Wiking hier sein Boots­haus gebaut. Der freund­li­che Portier von “Ernst Busch” zeigt mir die drei Gewölbe, die noch da sind. Bühnen­uten­si­lien, Fundus. Zerbro­chene Spie­gel.
Der erste Desi­gner von AEG, aber Desi­gner kann man ihn eigent­lich noch nicht nennen, hat die Decken ausge­malt; hieß Otto Eckmann, AEG-Prospekt für die Welt­aus­stel­lung Paris 1900. Von unten her ist es feucht. Mein Mann, sagt die Biblio­the­ka­rin, kriegt in den Räumen der Sprech­erzie­hung schon Rheuma. Ich bin 25 Jahre hier. Früher war noch mehr da von dein Boots­haus. Oben in Grünau sammeln die Wikin­ger Mate­rial. Sie wollen das Gelände wieder­ha­ben. Viel­leicht war dies das älteste Berli­ner Boots­haus. Engli­sche Vorbil­der, auf dem Fest­land gab es kaum seines­glei­chen. Deutsch­land ging aufs Wasser. Krupp grün­dete den Flot­ten­ver­ein. Anfang der 1880er hatte die AEG, die damals noch nicht so hieß, sechs Arbei­ter, 25 Jahre später 35.000 und noch mal drei Jahre drauf, 1911, noch mal doppelt so viele: 70.000.

Da sind wir nun bei der AEG. Mit der Tram 67 fahre ich hinüber auf die andere Spree­seite. An der Wuhl­heide 192/194. Auch ein Boots­haus. Es steht in den Büchern. Gilt als ein Boots­haus der archi­tek­to­ni­schen Sonder­klasse. Der Archi­tekt dieses Hauses: das war nun wirk­lich ein Desi­gner. Viel­leicht der erste deut­sche Desi­gner. Einer, der alles machte, die Brief­pa­piere von AEG und ihre Turbi­nen­hal­len. Er hieß Peter Behrens. 1907 von der AEG verpflich­tet für alles. Auch — siehe hier — für den Bau eines Boots­hau­ses für die besse­ren AEG-Herren (1910).
Die “AEG-Beam­ten”, hieß es, als ob die AEG der Staat gewe­sen wäre, legten sich hier in die Frei­zeit-Riemen. Und nann­ten ihren Ruder-Club “Elek­tra”, viel­leicht dach­ten sie an das elek­tri­sche Licht, mit dem ihre Chefs die Millio­nen mach­ten. 1907 war die AEG “unbe­streit­bar die größte Kombi­na­tion wirt­schaft­li­cher Einhei­ten unter einer zentra­lis­ti­schen Führung und Stück­ge­stal­tung”. Walt­her Rathenau, der Sohn des Chefs, Jude, war in 86 inlän­di­schen und 21 auslän­di­schen Top-Firmen leitend tätig. Vom Reich der Seele schrieb er und von den kommen­den Dingen: Die Seele liegt in den Ketten der Mecha­ni­sie­rung. Wer hat, dem wird gege­ben. Die Schlüs­sel des verbo­te­nen Landes heißen Bildung und Vermö­gen, und beide sind erblich. Im selben Jahr 1907 trat das Vereins­ge­setz in Kraft: Verhand­lun­gen sind auf deutsch zu führen, ordnete es an. Ein Drit­tel aller Berg­ar­bei­ter im Ruhr­ge­biet war fremd­spra­chig. Die SPD verlor die Reichs­tags­wahl; der “Block” der Sieger schrieb in seinem Programm: “Wir bekämp­fen den zerset­zen­den jüdi­schen Einfluss auf unser Volks­le­ben. Anhän­ger der Sozi­al­de­mo­kra­tie sind als Feinde der staat­li­chen Ordnung zu bekämp­fen”. Das war sieben Jahre bevor die Sozi­al­de­mo­kra­tie durch ihr Ja zum Ersten Welt­krieg inner­lich unter­ging und die Repu­blik verlor, ehe sie gewon­nen war.
Erst half AEG-Rathenau den Welt­krieg orga­ni­sie­ren, dann wollte er als Frie­dens­po­li­ti­ker alles gut machen, da ermor­dete ihn der Natio­na­lis­mus. Das Ruder­haus heißt Elek­tra. Da haben die AEG-Beam­ten nicht rich­tig mitge­kriegt in ihrer grün­der­zeit­li­chen Halb­bil­dung, dass sie nicht vom Strom rede­ten, sondern von der Tragö­die.

Der Blick über die Spree ist schön. Von der einen und von der ande­ren Seite. Die AEG ist weg, das Ruder­haus ist noch da. Mit Peter Behrens, heißt es, erreichte die Berli­ner Archi­tek­tur inter­na­tio­na­len Rang. Wer war er? Es steht in den Büchern. Was er war, war er auch nicht. 1940 ist er gestor­ben; da hatte sich das Blatt längst gewen­det; andere waren am Ruder, er hatte noch ein wenig versucht, sich mitzu­wen­den und mitzu­ru­dern. Die Moderne war viel weni­ger modern, als sie manch­mal dachte. Und was heißt über­haupt modern? Über­ste­hen ist alles. Übrig­blei­ben. Wenigs­tens ein Stück vom Spie­gel behal­ten, wenn alles in Scher­ben fällt.
Die Gast­stätte im Ruder­haus der Moderne heißt Skull. Sie ist zu empfeh­len.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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Berlin

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