Fragt man Leute aus der Gegend nach der Adresse Brun­nen­straße 41, kommt meis­tens die Anwort: Ach so, der Kinder­gar­ten auf dem Hof. Stimmt, den Kinder­gar­ten — in den viele Kinder, Eltern und sogar heutige Groß­el­tern aus der Gegend um Brun­nen­straße und Arko­na­platz gegan­gen sind, gab es zwischen 1948 und 1992. Viel­leicht wird mal jemand seine Chro­nik schrei­ben.
Uns aber inter­es­siert das Haus, das den Kinder­gar­ten beher­bergte. Es ist viel älter. Das vier­ge­schos­sige »Garten­haus« wurde von März bis Novem­ber 1913 errich­tet. Für die Zeit sehr modern und komfor­ta­bel einge­rich­tet, luftig, mit hohen Fens­tern, schö­nem Garten, umzäunt von schmie­de­ei­ser­nen Gittern, obwohl die Zeit mitten im Ersten Welt­krieg sicher zu Spar­sam­keit zwang. Auf Bildern des Foto­gra­fen Abra­ham Pisarek sehen wir eine aufwen­dig verzierte Fassade mit Reli­ef­dar­stel­lun­gen spie­len­der Kinder und einer Frau mit Säug­ling.
Konnte der Bauherr ahnen, dass nach 35 Jahren ein Kinder­gar­ten hier einzieht? Wuss­ten 35 Jahre später Kinder­gärt­ne­rin­nen und Besu­cher, warum das Haus so kind­ge­recht ausge­stat­tet ist?

Im Pisarek-Archiv fand sich ein weite­res Foto: Eine würdige Dame fort­ge­schrit­te­nen Alters in ihrer Feier­tags­tracht, die sie auf allen noch bekann­ten Aufnah­men trägt. So wie auf den Fotos des Garten­hau­ses einfach nur »Brun­nen­straße« stand, so ist auf die Rück­seite dieses Fotos lapi­dar der Name Minna Schwarz geschrie­ben. Das Foto steckte in einem Karton mit der Aufschrift »Phil­an­tro­pie«. Diese »Menschen­freun­din« Minna Schwarz (1859–1936) war es, die 1913 auf dem Grund­stück Brun­nen­straße 41 das Garten­haus als Mütter- und Säug­lings­heim errich­ten ließ.
Voraus­ge­gan­gen war dem Bau die Grün­dung des Frau­en­ver­eins der Berli­ner Logen Bnai Brit vor nunmehr 113 Jahren — im März 1888. Ehefrauen begü­ter­ter jüdi­scher »Logen­brü­der« began­nen ehren­amt­lich, sich um arme Wöch­ne­rin­nen zu kümmern. Sie besuch­ten junge Frauen, die gerade entbun­den hatten, in deren Unter­künf­ten, halfen bei der Pflege der Säug­linge, stell­ten Windeln, Lebens­mit­tel, wohl auch Geld zur Verfü­gung. Sie kümmer­ten sich um junge Mädchen, die — selbst noch halbe Kinder — plötz­lich ein Kind erwar­ten, oft ohne die Unter­stüt­zung des Kindes­va­ters oder einer Fami­lie. Bald schon stell­ten die Frauen des Frau­en­ver­eins, unter ihnen Minna Schwarz, Wohnun­gen für die Schwan­ge­ren und Wöch­ne­rin­nen zur Verfü­gung, damit diese wenigs­tens in der Zeit unmit­tel­bar vor und nach der Geburt ihrer Kinder unter­ge­bracht und umsorgt waren.

Der Platz in den dafür genutz­ten Wohnun­gen auf dem Grund­stück Brun­nen­straße 41 reichte bald nicht mehr aus. Daher wurde das Garten­haus errich­tet. Jahr­zehn­te­lang hieß es in den Berich­ten des Frau­en­ver­eins, dass »nie eine Frau… vor unse­rer Türe zurück­ge­wie­sen werden mußte«. Geführt wurde das Haus von deut­schen Jüdin­nen, Aufnahme jedoch fanden alle Schutz­su­chen­den, ob Jüdin, Chris­tin oder konfes­si­ons­los, ob Deut­sche oder auf der Flucht vor Pogro­men und Krieg und Armut nach Berlin geflüch­tete »Auslän­de­rin«.
Das Garten­haus beher­bergte in den kommen­den Jahr­zehn­ten nicht allein das Mütter- und Säug­lings­heim mit ange­stell­tem Perso­nal und Ärzten, es bot Platz für eine der ersten Mütter­be­ra­tung­s­tel­len in Berlin. Bald wurden in dieser Sozi­al­ein­rich­tung auch junge Frauen zu Säug­lings­pfle­ge­rin­nen ausge­bil­det. Ab 1926 erhiel­ten sie nach einein­halb­jäh­ri­ger Ausbil­dung sogar das Staats­examen. Es gab Höhen und Tiefen, Kriegs­zeit und Infla­tion, doch bis Anfang der 40er Jahre blieb die Einrich­tung bestehen. Der Frau­en­ver­ein zählte bis zu 6.000 Mitglie­der. Ab 1932 wurde ein Teil des Hauses als Alten­heim genutzt, das Haus erhielt den offi­zi­el­len Ehren­na­men »Minna-Schwarz-Heim«. Die Namens­ge­be­rin wohnte nach dem Able­ben ihres Mannes bis zu ihrem Tod Ende 1936 selber dort.

Mit der Macht­er­grei­fung der Faschis­ten 1933 wurden die Probleme zuneh­mend unüber­wind­lich. Jüdi­sche Ärzte durf­ten ihre Berufs­be­zeich­nung nicht mehr führen, ihnen wie vielen ande­ren wurde die Lebens­grund­lage entzo­gen. Das betraf auch die beiden lang­jäh­ri­gen Ärzte im Minna-Schwarz-Heim, Dr. Josef Hirsch und Dr. Stephan Stein­har­ter. Letz­te­rem gelang 1939 die Flucht aus Deutsch­land, er arbei­tete als Arzt bis zu seinem Tod 1956 in New York. Der junge medi­zi­ni­sche Prak­ti­kant Dr. Alfred Gold­staub, seit Dezem­ber 1941 im Heim Brun­nen­straße, und mehrere seiner Fami­li­en­mit­glie­der wurden depor­tiert und ermor­det. Wie andere jüdi­sche Sozi­al­ein­rich­tun­gen erhielt das Minna-Schwarz-Heim keine städ­ti­schen und staat­li­chen Zuschüsse mehr für die Betreu­ung von Säug­lin­gen, jungen Müttern und Senio­ren.
Juden muss­ten ihre Wohnun­gen in »arischen« Häusern aufge­ben und in »Juden­häu­ser« umsie­deln, so sie in Berlin blie­ben. Die Brun­nen­straße 41 wurde solch ein Juden­haus. Etli­che neue Bewoh­ner hatten aus Pankow und Reini­cken­dorf umsie­deln müssen. Auf Anwei­sung des Bezirks­am­tes Berlin-Mitte von 1942 durf­ten ausge­bombte Juden aus der nähe­ren Umge­bung nur hier Notun­ter­kunft suchen, ebenso wie Juden nicht mit ande­ren gemein­sam Unter­schlupf in Luft­schutz­kel­lern finden durf­ten. Fami­li­en­mit­glie­der von Minna Schwarz wie ihr Bruder Alex­an­der Rose­nau und dessen Frau Else wurden in There­si­en­stadt ermor­det. Das Schick­sal des Neffen Gerhard sowie der Schwes­tern, Dr. Clara Held und Johanna Moses, kennen wir nicht. Der im Prenz­lauer Berg bekann­ten Lehre­rin Marga­rete Fried, die im Frau­en­ver­ein der Berli­ner Logen Bnai Brit aktiv war, gelang mit ihrer Fami­lie 1938 die Flucht nach Paläs­tina.
Als 1942 die Depor­ta­tio­nen in Vernich­tungs­la­ger began­nen, lebten vorwie­gend alte Menschen im ehema­li­gen Minna-Schwarz-Heim, versorgt von weni­gen Betreu­ungs­per­so­nen. In Pots­dam sind zwei Depor­ta­ti­ons­lis­ten mit 98 Namen unter der Adresse Brun­nen­straße 41 archi­viert. Der Vermerk »unbe­kannt verzo­gen« bedeu­tet, wie wir heute wissen, baldi­gen Tod auf dem Trans­port, in There­si­en­stadt, Ausch­witz, Riga, im »Osten«.

Bisher kennen wir nament­lich ca. 150 ehema­lige Bewoh­ne­rin­nen oder Mitar­bei­te­rin­nen aus der Brun­nen­straße 41, die aufgrund ihrer von den Faschis­ten defi­nier­ten jüdi­schen Herkunft umge­bracht wurden. Unter ihnen die Berli­ne­rin Erna Herr­mann (oder Hermann), von der wir nur wissen, wann sie gebo­ren wurde, dass sie »Mitar­bei­te­rin im Alters­heim« war und aus der Brun­nen­straße 41 gemein­sam mit Bewoh­nern am 18. Mai 1943 Rich­tung There­si­en­stadt und Ausch­witz depor­tiert wurde. Ist sie es, die vorher in der Esmarch­straße lebte, ist sie eine Verwandte der Frau Herr­mann aus Schwetz, die 1939 mit 74 Jahren im Heim verstarb?
Eine Säug­lings­schwes­ter des Heims dage­gen ist durch Forschun­gen in Pankow und durch das Buch von Regina Scheer über das Kinder­heim »Ahawah« heute bekannt: Noch unter ihrem Mädchen­na­men hatte Edith Fürst 1931 in der Brun­nen­straße gear­bei­tet, dann in Pankow mit ihrer Schwes­ter ein eige­nes Kinder­heim geführt, u.a. die Kinder von Liese­lotte Herr­mann und Georg Benja­min betreut. Sie über­lebte versteckt in Berlin und verstarb Ende 1997.
Am Grund­stück Brun­nen­straße 41 ein Erin­ne­rungs­zei­chen anzu­brin­gen, wurde bereits im Januar 1997 beschlos­sen. Wir hoffen, daß nach jahre­lan­gem Leer­stand bald die neuen Haus­ei­gen­tü­mer dieses Vorha­ben unter­stüt­zen werden. Vor allem aber möge die weitere Nutzung an die Inten­tio­nen des Minna-Schwarz-Heims und seiner Betrei­be­rin­nen anknüp­fen.
(Nach­trag: Wer die erwähn­ten Perso­nen kennt oder Infor­ma­tio­nen über die Brun­nen­straße 41 hat, bitten wir, sich beim gemein­nüt­zi­gen Frau­en­ver­ein »Brunn­hilde« in der Rheins­ber­ger Straße 61 oder unter Tele­fon 449 32 27 zu melden.).

Apro­pos Brun­nen­straße:
Abra­ham Pisarek, der die einzig noch bekann­ten histo­ri­schen Fotos von der Synagoge und dem Minna-Schwarz-Heim in den 30er-Jahren aufge­nom­men hat, kannte die Gegend gut. Oft machte er beim Kultur­ver­ein Progress mit, dessen Proben­raum sich Rosen­tha­ler Straße 40/41 befand. Seine spätere Ehefrau bewohnte eine Zeit lang zunächst einein­halb Zimmer in der Bernauer Straße, dann wohnte sie Ende 1928 einige Wochen bei einer Tante in der Brun­nen­straße, nahe am Rosen­tha­ler Platz. Der spätere Ehemann und Berufs­fo­to­graf Pisarek ging natür­lich ein und aus. Und er hat in der Brun­nen­straße gear­bei­tet, betrieb für einen ehema­li­gen Klas­sen­ka­me­ra­den aus Lodz auf dem Weih­nachts­markt an der Brun­nen­straße einen Stand mit Socken, Herren- und Damen­wä­sche und Bett­zeug (bis Februar 1929 dann noch auf dem Wochen­markt Badstraße).
»Sein Markt­de­büt wird ein Erfolg. Er ist freund­lich und fröh­lich und hübsch, die Kundin­nen kaufen gern bei ihm, manche kaufen, die gar nicht kaufen wollen. Das Geschäft blüht in der Vorweih­nachts­zeit. Man ist froh, wenn man sich im Krisen­win­ter 1928/29 warme Socken zu Weih­nach­ten schen­ken kann.«
(Inge Unikower im biogra­fi­schen Roman)

[Die Infor­ma­tio­nen und Mate­ria­lien für den Beitrag über die Synagoge stellte dankens­wer­ter­weise Frau Heidi Ewald zu Verfü­gung. Danke auch an Frau Sabine Krusen — zugleich Autorin des Textes über das Minna-Schwarz-Heim und Abra­ham Pisarek — und Marion Keuni­cke für die vielen Hinweise zu diesem Abschnitt.]

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6 Kommentare

  1. Sehr geehrte Damen und Herren,
    ich bin auf der Suche nach Spuren einer alten Jüdin aus Lauter­bach, die laut Anga­ben des dorti­gen Einwoh­ner­mel­de­am­tes 1936 nach Berlin in die Brun­nen­straße 41, Minna-Schwarz-Heim verzog auf Ihre Website gesto­ßen und werde mich demnächst mit Frau­en­ver­ein “Brun­hilde” in Verbin­dung setzen.
    Mit freund­li­chen Grüßen
    Dr. Röder

  2. Ich habe ein (verton­tes) Thea­ter­stück „Doro­thea“ gefun­den, wo als Autoren Minna Schwarz und Eugen Brück­ner ange­ge­ben sind. Eugen Brück­ner war 1872 gebo­ren und laut Wiki­pe­dia Poli­ti­ker der SPD in Berlin, sodass ich ziem­lich sicher bin, dass er der Co-Aufor von dieser Minna Schwarz ist. Ich wäre dennoch über eine Bestä­ti­gung dieser Annah­men dank­bar. Mit freund­li­chen Grüßen Uwe Scheer

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