Vor allem in der Umge­bung der nörd­li­chen Brun­nen­straße gab es vor der Macht­über­nahme der Nazis eine breite anti­fa­schis­ti­sche Bewe­gung. Obwohl dieser Begriff miss­ver­ständ­lich ist, denn diese »Bewe­gung« war nicht einheit­lich und trat auch niemals geschlos­sen auf. Die Gegner der Nazis waren in viele Orga­ni­sa­tio­nen und Inter­es­sen­grup­pen gespal­ten und teil­weise selbst unter­ein­an­der verfein­det. Zum Beispiel waren da die Kommu­nis­ten der KPD, die sich damals als einzige »wahre Anti­fa­schis­ten« darstell­ten. Doch es gab auch Abspal­tun­gen, die den stali­nis­ti­schen Kurs der KPD nicht mitma­chen woll­ten oder die Partei verlie­ßen, weil diese sich auf Anord­nung Stalins vorüber­ge­hend nicht mehr gegen die Nazis wenden durfte und statt dessen die SPD als »Sozi­al­fa­schis­ten« zum eigent­li­chen Feind erklärte.

Auch die SPD, die eben­falls in der Gegend um den Gesund­brun­nen stark war, hatte Abspal­tun­gen hinzu­neh­men, weil die Partei manchen Mitglie­dern zu zahn­los und zu wenig konse­quent war. Dane­ben exis­tier­ten noch jüdi­sche Jugend­grup­pen sowie christ­li­che Initia­ti­ven und Vertre­ter, die den Nazis feind­lich geson­nen waren. Später, in der Zeit der Nazi­herr­schaft, gab es auch unpo­li­ti­sche Jugend­li­che, die sich gegen die von den Nazis verord­ne­ten Struk­tu­ren stell­ten.
Doch noch waren die Nazis nicht an der Macht und gerade der Wedding war als »rote Hoch­burg« Berlins verschrieen. In der Brun­nen­straße mit der AEG und der weite­ren Umge­bung lebten beson­ders viele Arbei­ter, so dass hier auch die Arbei­ter­par­teien beson­ders stark vertre­ten waren. Darun­ter vor allem die kommu­nis­ti­sche KPD, die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche SPD und die faschis­ti­sche NSDAP. Alle drei Parteien bekämpf­ten sich gegen­sei­tig und hatten dazu ihre jewei­li­gen Kampf­or­ga­ni­sa­tio­nen, wobei sich vor allem die SA der Nazis als eigen­stän­dige Orga­ni­sa­tion auf der Straße profi­lierte. 1932 wurde die SA vorüber­ge­hend verbo­ten. Sie war es auch, die es mit ihrem Klas­sen­kampf-Pathos schaffte, eigent­lich anti­fa­schis­ti­sche Arbei­ter schon vor der Macht­über­nahme zu den Nazis zu holen, und erst recht, nach­dem ihre Partei an die Regie­rung kam.

In der Gegend um die Brun­nen­straße gab es mehrere Schwer­punkte, an denen es regel­mä­ßig »knallte«, vor allem zwischen den Nazis und den Kommu­nis­ten. Neben dem großen AEG-Werk zwischen der Brun­nen- und der Acker­straße waren das der Betriebs­hof der BVG in der Usedo­mer Straße sowie die verschie­de­nen Fest­säle der Umge­bung. Saal- und anschlie­ßende Stra­ßen­schlach­ten gab es oft am Bahn­hof Gesund­brun­nen, in dessen Umge­bung einige Versamm­lungs­räume der Nazis und der Kommu­nis­ten exis­tier­ten. Auch bei mehre­ren Märschen der Faschis­ten durch die Putbus­ser und die Swine­mün­der Straße kam es zu Stra­ßen­kämp­fen.
Der BVG-Betriebs­hof Usedo­mer Straße war für alle poli­ti­schen Grup­pen ein inter­es­san­tes Terrain und daher auch mehr­mals Schau­platz der Ausein­an­der­set­zun­gen. Als SA-Männer dort am 29. Mai 1931 Flug­blät­ter der »Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Betriebs­zel­len-Orga­ni­sa­tion« (NSBO) vertei­len woll­ten, wurden sie von BVG-Arbei­tern mit Gewalt vertrie­ben. Schräg gegen­über befand sich in der Usedo­mer Straße 9 schon sehr früh das erste SA-Sturm­lo­kal im Wedding, das »Grahn«. Dort, nahe der Brun­nen­straße, kam es kurz darauf wieder zu schwe­ren Ausein­an­der­set­zun­gen, dies­mal weil die NSDAP im Wahl­kampf mit der KPD anein­an­der geriet.
Während des SA-Verbots 1932 exis­tierte die Orga­ni­sa­tion ille­gal weiter. Als Sport­ver­ein getarnt, traf man sich in den Sturm­lo­ka­len und machte auch weiter­hin Jagd auf Anders­den­kende, nur eben nicht in Uniform. Als das Verbot am 11. Juli ’32 durch den neuen Reichs­kanz­ler Papen wieder aufge­ho­ben wurde, schlug die SA noch am selben Tag erbar­mungs­los zu: 27 Tote und 181 Schwer­ver­letzte waren das Ergeb­nis.

In dieser krisen­ge­schüt­tel­ten Zeit wurde stän­dig gewählt und gestreikt. Im Novem­ber gab es auch bei der BVG eine Urab­stim­mung, bei der 65% für einen Streik votier­ten — doch eine offi­zi­elle Zustim­mung hätte 75% erfor­dert. Trotz­dem wurde der Streik gegen die Lohn­kür­zun­gen begon­nen und es betei­lig­ten sich auch die KPD sowie die NSDAP daran. SPD und Gewerk­schaf­ten lehn­ten den »wilden« Streik ab, da er unrecht­mä­ßig sei. So kam es, dass sich die Kommu­nis­ten und die Nazis gemein­sam vor den Toren des BVG-Betriebs­ho­fes zusam­men­fan­den. Diese kurze »Kampf­ge­mein­schaft« funk­tio­nierte auch gegen den gemein­sa­men Feind SPD: Während der Zeit der rot-brau­nen Streik­front verprü­gel­ten die Schlä­ger der NSDAP und der KPD zusam­men eine Gruppe Reichs­ban­ner-Anhän­ger, die sich neben dem Stra­ßen­bahn­hof Müllerstraße versam­melt hatten, um zu einer SPD-Veran­stal­tung zu gehen. Aller­dings war dieses Vorge­hen an der KPD-Basis nicht unum­strit­ten. Dies belegt der mangelnde Erfolg des dama­li­gen Spit­zen­funk­tio­närs Walter Ulbricht, für diese Aktio­nen Unter­stüt­zer zu mobi­li­sie­ren: Selbst im rela­tiv star­ken Gesund­brun­nen konnte er nur 30 bis 40 Kommu­nis­ten zusam­men­brin­gen. Anders als ihre Führung hatten viele der Kommu­nis­ten ein klares Verhält­nis zu den Nazis, das aus den Erfah­run­gen mit deren Terror herrührte. Sie konn­ten die takti­schen Manö­ver der Partei­füh­rung nicht nach­voll­zie­hen.

Nach­dem die Nazis am 30. Januar 1933 an die Macht kamen, waren die Kommu­nis­ten dann die ersten, die den geball­ten Terror abbe­ka­men. Die KPD wurde verbo­ten, ebenso ihre Unter­or­ga­ni­sa­tio­nen und ange­schlos­se­nen Initia­ti­ven. Die kommu­nis­ti­schen Abge­ord­ne­ten im Reichs­tag und den Regio­nal- und Lokal­par­la­men­ten verlo­ren ihre Mandate, Tausende von Funk­tio­nä­ren und bekann­ten Mitglie­dern wurden verhaf­tet. Die SPD wurde zwar zum Teil eben­falls von Anfang an Repres­sio­nen unter­zo­gen, doch die Nazis ließen sich mit deren völli­ger Unter­drü­ckung noch sechs Wochen Zeit. Denn für Anfang März 1933 waren Wahlen ange­setzt, mit denen sich die Faschis­ten ganz offi­zi­ell bestä­ti­gen lassen woll­ten. Es war vorge­se­hen, dass dies für die folgen­den tausend Jahre die letzte Wahl sein sollte. Das klappte zwar nicht ganz, aber es wurden immer­hin noch zwölf. Die KPD konnte an dieser Wahl nicht mehr teil­neh­men und auch die SPD stand schon unter massi­vem Druck. Manche ihrer Abge­ord­ne­ten waren bereits verhaf­tet, unter­ge­taucht oder in weiser Voraus­sicht ins Exil gegan­gen. Am 5. März 1933, unmit­tel­bar vor der letz­ten Wahl, fand dann in der »Licht­burg« am Bahn­hof Gesund­brun­nen die letzte offi­zi­elle SPD-Veran­stal­tung im Wedding statt. Aller­dings konnte sie nicht mehr zu Ende gebracht werden und musste sich bereits nach der ersten Rede auflö­sen.

…aus der Sicht der NSDAP

»Nach der Aufhe­bung des Partei­ver­bo­tes erfolgte im Mai 1928 die Grün­dung der Sektion Wedding. Sie hatte damals nicht mehr als 18 Partei­ge­nos­sen. Eine kleine namen­lose Schar. Im Herbst 1928 gab die Sektion die Parole aus: Bis Weih­nach­ten wollen wir hundert Partei­ge­nos­sen sein. Keine Mitläu­fer, sondern aktive Kämp­fer. Dieses Ziel wurde auch erreicht. 1929 trat die Sektion Wedding zum ersten Mal auch nach außen hin in Erschei­nung. Bei den Stadt­ver­ord­ne­ten­wah­len bekann­ten sich 7.000 Weddin­ger zur NSDAP. Während des Wahl­kamp­fes war 1929 erst­ma­lig der gesamte Gau-Sturm Berlin der SA auf dem Wedding propa­gan­dis­tisch einge­setzt worden. Am 14. Septem­ber 1930 stie­gen die Stim­men der NSDAP im Wedding auf mehr als 20.000.
Die Hitler-Jugend hatte auf dem Wedding einen beson­ders schwe­ren Stand. Die marxis­ti­schen Jugend- und Sport­ver­bände beherrsch­ten voll­kom­men das Feld. Die weni­gen, fast noch an einer Hand abzu­zäh­len­den Hitler­jun­gen, die 1928 auf dem Wedding vorhan­den waren, gehör­ten zum Fähn­lein Mitte. Die eigent­li­che Entwick­lung der Weddin­ger Hitler-Jugend ging erst vom NS-Schü­ler­bund aus, der im Mai 1929 gegrün­det wurde.

Es darf nicht die Weddin­ger SA verges­sen werden. Der Sturm 17 umfasste nicht nur den gesam­ten Wedding, sondern auch das Gebiet um den Stet­ti­ner Bahn­hof (Stadt­be­zirk Mitte). Aus dem Tradi­ti­ons­sturm 17 unter dem Sturm­füh­rer Franz Zachau, dessen Sturm­lo­kal seit jeher das bekannte Lokal Grahn in der Usedo­mer Straße war, entstan­den zunächst drei Stürme: 40, 41 und 17, später weitere wie der Sturm 100. Der Sturm 17 gehörte zu der allen Kämp­fern der NSDAP wohl­be­kann­ten Stan­darte IV, oftmals ‘Stan­darte Zackig’ genannt.

Zusam­men mit der Partei­orts­gruppe Gesund­brun­nen fiel dem SA-Sturm 100 die Aufgabe zu, dieses rote Gebiet aufzu­lo­ckern und zu erobern. Durch die Versamm­lun­gen in den Atlan­tik-Sälen am Bahn­hof Gesund­brun­nen wurde die gesamte Kommune alar­miert. Sie versuchte mit ihren berüch­tig­ten Kampf­staf­feln die Veran­stal­tungs­be­su­cher durch Einzel­ter­ror mürbe zu machen. Die Kommune versuchte durch häufige ‚Protest­ver­samm­lun­gen gegen die Haken­kreuz­ge­fahr’ in Schmidts Fest­sä­len, im Volks­mund Glas­kiste genannt, zu retten was zu retten war. Es gab eine große Aufre­gung bei den Bolsche­wis­ten, als die NSDAP-Orts­gruppe Gesund­brun­nen auch in diesem Lokal eine Veran­stal­tung abhielt. Die übli­chen Tsche­ka­me­tho­den wurden ange­wandt, aber alles war vergeb­lich. Die Versamm­lung fand doch statt und die Kommune bezog von der Gesund­brun­ner SA wohl­ver­diente Prügel. Nach der Macht­über­nahme bezog der Sturm 100 die Glas­kiste als Sturm­lo­kal.

Im Hoch­som­mer 1932 war die Kampf­kraft der marxis­ti­schen Gegner schon so weit erlahmt, dass auf dem Garten­platz ein Aufmarsch der SA, mit einer Kund­ge­bung des Bezirks Norden reibungs­los durch­ge­führt werden konnte. Im Juli 1929 konn­ten bei der AEG in der Brun­nen­straße als auch in der Acker­straße natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Zellen aufge­zo­gen werden. Bis zur Macht­über­nahme hatte die NSBO auf dem Wedding 24 Betriebs­zel­len mit 2.200 Mitglie­dern.«
[aus »75 Jahre Wedding« NSDAP- Orts­gruppe Wedding]

Widerstand in den ersten Jahren

Leider hat sich nach der Zerschla­gung der Nazi­herr­schaft heraus­ge­stellt, dass es nur verhält­nis­mä­ßig wenige Menschen gab, die sich aktiv gegen die Unter­drü­ckung enga­giert haben. Manche vertei­dig­ten sich vor allem selbst, weil sie aus ideo­lo­gi­schen oder rassi­schen Grün­den zum Feind­bild der Nazis wurden. Andere setz­ten sich für Menschen ein, die Opfer der Faschis­ten wurden. In diesem Abschnitt soll beides vorge­stellt werden.

Am Gesund­brun­nen lebte Walter Wels, Sohn des SPD-Reichs­tags-Abge­ord­ne­ten Otto Wels. Sein Vater stellte sich bei der Reichs­tags-Abstim­mung zum Ermäch­ti­gungs­ge­setz, das der NSDAP die totale Macht im Staat garan­tierte, den Nazis entge­gen, musste darauf­hin aber aus Sicher­heits­grün­den das Land verlas­sen. Er emigrierte nach Prag, wo er mit ande­ren den SPD-Exil­vor­stand aufbaute. Walter Wels betrieb einen klei­nen Lotte­rie-Laden und war bis zur Macht­er­grei­fung Leiter einer SPD-Abtei­lung am Gesund­brun­nen. Nach­dem sein Vater emigriert war, räch­ten sich die Faschis­ten an Walter Wels, indem sie seinen Laden enteig­ne­ten und seinen sons­ti­gen Besitz beschlag­nahm­ten. Damit sollte der Sohn für dem Vater büßen, er sollte gebro­chen werden. Doch zusam­men mit seiner Frau Luise über­stand er auch die zahl­rei­chen Haus­durch­su­chun­gen der Gestapo, die Walter Wels — völlig zu Recht — in Verdacht hatte, ille­gal für die Partei zu arbei­ten. Denn tatsäch­lich gelang es ihm mehrere Male, trotz Bespit­ze­lun­gen zu seinem Vater nach Prag zu kommen und von dort ille­ga­les Mate­rial mitzu­brin­gen, das er dann in Berlin unter ande­ren Sozi­al­de­mo­kra­ten verteilte. Zusam­men mit seiner Frau orga­ni­sierte Walter Wels noch jahre­lang ille­gale Tref­fen sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Sympa­thi­san­ten und schaffte es sogar, jüngere Menschen aus der Gegend des Gesund­brun­nens mit einzu­bin­den. Um den Kontakt zu den Freun­den nicht abbre­chen zu lassen, um Mut zu spen­den und zu bewei­sen, dass man nicht allein dasteht, traf man sich außer­halb der Stadt zu Wande­run­gen und Gesprä­chen.

Ein ande­res Beispiel ist die Arbeit der Brüder Werner und Gerhard Wille, die in der Behm­straße 1, unmit­tel­bar am Bahn­hof Gesund­brun­nen, ihre Rechts­an­walts­kanz­lei hatten: Bis 1938 vertei­dig­ten sie verfolgte Anti­fa­schis­ten, bis hoch zum Volks­ge­richts­hof. Doch die Gestapo hatte vor allem Werner Wille schon lange in Verdacht, Kontakt zum Vorstand der Exil-SPD zu halten, was auch stimmte. Aber sie konnte nichts bewei­sen, und als sie ihn 1938 trotz­dem wegen Hoch­ver­rat fest­neh­men und ankla­gen lassen wollte, war Werner Wille verschwun­den. Über Frank­reich gelang ihm die Flucht in die USA. Der statt dessen fest­ge­nom­mene Bruder Gerhard wurde nach eini­gen Mona­ten wieder frei­ge­las­sen, da man ihm nichts nach­wei­sen konnte. Jahre­lange ille­gale Unter­stüt­zung von mehre­ren hundert Menschen konn­ten diese beiden trotz der Über­wa­chung vor der Gestapo geheim halten!

Im selben Haus befand sich auch die Wohnung von Max Seyde­witz. Dieser war ursprüng­lich Abge­ord­ne­ter der SPD im Reichs­tag und gehörte in der Partei zum linken Flügel. Zusam­men mit Kurt Rosen­feld und einer Reihe weite­rer Sozi­al­de­mo­kra­ten verließ er 1931 die Partei und grün­dete die »Sozia­lis­ti­sche Arbei­ter­par­tei« (SAP). Als die Gestapo im März 1933 Max Seyde­witz verhaf­ten wollte, konnte er aus der Wohnung flie­hen und unter­tau­chen. Noch 1935 zählte die ille­gale SAP mehrere hundert Mitglie­der, aller­dings konnte sie im Früh­jahr 1936 von der Gestapo aufge­rollt werden. Trotz­dem gab es noch bis zum Kriegs­be­ginn im Berli­ner Raum einzelne SAP-Grup­pen, die sich trafen und den Fami­lien verfolg­ter Mitglie­der beistan­den. Max Seyde­witz wurde nach dem Krieg Minis­ter­prä­si­dent von Sach­sen.
Eben­falls im Norden Berlins lag bis Ende 1933 ein orga­ni­sa­to­ri­scher und poli­ti­scher Schwer­punkt des »Inter­na­tio­na­len Sozia­lis­ti­schen Kampf­bunds« (ISK). Der ISK versuchte bis 1933, die verfein­de­ten KPD und SPD zu versöh­nen. Der Berli­ner Leiter des ISK war Fritz Grob. Er zog 1934 nach Mitte, wo der ISK eine eigene Gast­stätte betrieb. Der ISK begann mit seiner ille­ga­len Arbeit im Herbst 1933, in Form von Klebe­zet­teln und Flug­blät­tern. Im April 1935 flog die Gruppe auf, der Haupt­an­ge­klagte Fritz Grob erhielt drei Jahre Zucht­haus. Ein ande­rer ISK’­ler, der Maler Kurt Kulse aus der Swine­mün­der Straße 34, verbüßte über zwei Jahre Haft. Sein Bruder Werner, eben­falls vom Gesund­brun­nen, bekam einein­vier­tel Jahr Gefäng­nis.

Eine ganz andere ille­gale Orga­ni­sa­ti­ons­form war die der »Rotsport­ler«. Nach der Zerschla­gung des Arbei­ter­sport­ver­eins »Fichte«, und auch trotz vieler Über­läu­fer zu den Nazis, entschloss sich eine kleine Gruppe Gesund­brun­ner Mitglie­der zur ille­ga­len Weiter­ar­beit. Sie hatten Kontakt zu einer ande­ren kommu­nis­ti­schen Gruppe, die aus Kopen­ha­gen ille­ga­les Mate­rial bezog und an andere »Arbei­ter­sport­grup­pen« weiter­lei­tete. Die etwa 20 jungen Weddin­ger trafen sich im Lokal Ramler­straße 5 Ecke Putbus­ser Straße, dort kamen sie als Billard­kreis getarnt zusam­men. Gleich um die Ecke, in der Swine­mün­der Straße, wurden Flug­blät­ter gedruckt. 1935 wurde die Reichs­or­ga­ni­sa­tion durch einen Spit­zel verra­ten. Die beiden Spit­zen­funk­tio­näre Rudi Roth­kamm und Erwin Heuer aus der Putbus­ser Straße 26 wurden verhaf­tet und von der Gestapo gefol­tert, aber sie verrie­ten nieman­den. Trotz­dem konn­ten über 350 Menschen verhaf­tet werden, davon kamen 200 vor Gericht. Von der Gesund­brun­ner Gruppe waren 15 Sport­ler betrof­fen, die zu Zucht­haus bis zu drei Jahren verur­teilt wurden.
Und auch am Arko­na­platz in Mitte traf sich weiter­hin eine ehema­lige Fichte-Sport­gruppe. Neben Diskus­sio­nen unter­ein­an­der gab die Gruppe eine eigene Zeitung heraus und orga­ni­sierte Quar­tiere für verfolgte Freunde. Zur Tarnung ihrer Akti­vi­tä­ten und auch um noch Unent­schlos­sene für den Wider­stand zu gewin­nen, traten sie dem Leicht­ath­le­tik­ver­band Asto­ria bei. Leider waren einige der jünge­ren Mitglie­der zu leicht­sin­nig, wodurch die gesamte Gruppe aufflog und mehrere ihrer Mitglie­der verhaf­tet wurden.

Ab 1936 gab es sehr viele Verur­tei­lun­gen von Anti­fa­schis­ten aus dieser Gegend. Bekannt ist das Verfah­ren gegen Willi Borem­ski aus der Schön­hol­zer Straße 5, weil er Unter­grund­schrif­ten verbrei­tet hatte. Karl Pawlack aus der Stre­lit­zer Straße 25 wurde zusam­men mit zehn weite­ren Kommu­nis­ten verur­teilt. Ebenso Willi Kunzig (Zions­kirch­platz 13) mit zwölf ande­ren. Insge­samt neun Anti­fa­schis­ten wurden mit Leon­hard Zilin­ski aus der Fehr­bel­li­ner Straße 40/41 ange­klagt. Der Kell­ner Max Dierich aus der Chris­ti­nen­straße 5 wurde verur­teilt, weil er Propa­gan­da­ma­te­rial bezog und seine Wohnung zum Abhö­ren des Moskauer Rund­funks zur Verfü­gung stellte. Ebenso der Hotel­die­ner Franz Vetto­razzi aus der Rück­ert­straße 3, den man auf dem Koppen­platz mit einem Koffer voller Propa­gan­da­ma­te­rial erwischte.

Um die nörd­li­che Brun­nen­straße herum gab es 1937 eine erneute Verhaf­tungs­welle gegen Kommu­nis­ten, vor allem im Unter­be­zirk Gesund­brun­nen. So erwischte es im Juni ’37 den später an ande­rer Stelle bekannt gewor­de­nen Erich Honecker zusam­men mit Bruno Baum aus der Usedo­mer Straße 19, die zu zehn bzw. drei­zehn Jahren Zucht­haus verur­teilt wurden. Beide waren damals Funk­tio­näre des Kommu­nis­ti­schen Jugend­ver­bands KJVD. Im April 1938 wurde Willi Reinke zu zwölf Jahren Zucht­haus verur­teilt, wo er dann 1942 in Bran­den­burg auch starb. Im Juli ’38 verur­teilte das Kammer­ge­richt sechs Ange­klagte wegen »Vorbe­rei­tung zum Hoch­ver­rat«, also wegen kommu­nis­ti­scher Propa­ganda, zu zwei bis drei Jahren Zucht­haus. Weitere 26 Kommu­nis­ten kamen im April 1939 vor Gericht. Sie hatten nach Tref­fen in der Hussi­ten­straße 68 im Stadt­vier­tel Druck­schrif­ten verteilt. In drei weite­ren Prozes­sen gegen insge­samt 24 Ange­klagte des UB Gesund­brun­nen wurden Zucht­haus­stra­fen bis zu drei Jahren verhängt, die meis­ten wegen kommu­nis­ti­scher Propa­ganda.

Doch es gab nicht nur partei­po­li­tisch moti­vier­ten Wider­stand gegen die Nazis. Ein Beispiel von christ­li­chem Enga­ge­ment ist die Arbeit der »Beken­nen­den Kirche« (BK). Schon sehr früh hatte die NSDAP versucht, mit der Grün­dung der »Deut­schen Chris­ten« eine Art natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Kirche zu entwi­ckeln. Bei den Evan­ge­len fanden sich viele Pfar­rer bereit, dort mitzu­wir­ken, so dass die Evan­ge­li­sche Kirche prak­tisch gespal­ten wurde. Als Gegen­part zu den »Deut­schen Chris­ten« entstand um Pastor Martin Niem­öl­ler herum der »Pfar­rer­not­bund«, aus dem später die BK entstand.
Zum größ­ten Teil verlief die Spal­tung der gesam­ten Kirche auch durch die einzel­nen Gemein­den. Die Versöh­nungs­ge­meinde in der Bernauer Straße stand mehr­heit­lich zur Beken­nen­den Kirche. Nach­dem der dortige Vikar von der Kanzel aus kriti­siert hatte, dass in Nazi-Deutsch­land Menschen ohne Urteil inhaf­tiert werden, und er den »Völki­schen Beob­ach­ter« ein Hetz­blatt nannte, wurde er für sechs Monate einge­sperrt. Gleich­zei­tig gab es aber auch den Pfar­rer Kers­ten, der schon mal im Braun­hemd der SA predigte und einem SA-Mann seinen Revol­ver lieh. Die Gottes­dienste und Gemein­de­ver­an­stal­tun­gen wurden jahre­lang getrennt zwischen DC- und BK-Pfar­rern abge­hal­ten, bis die beiden »beken­nen­den« Pfar­rer Eduard Kitt­laus und Erich Gallert die Gemeinde 1942 bzw. 1944 verlas­sen muss­ten.

Demge­gen­über waren die Bewe­gungs­mög­lich­kei­ten des einzi­gen Bekennt­nis-Pfar­rers an der Frie­dens­kir­che (Ruppi­ner Straße) schon sehr früh extrem einge­schränkt. Pfar­rer Rödi­ger wurde von der hier beson­ders radi­kal auftre­ten­den Frak­tion der Deut­schen Chris­ten aus der Gemeinde gedrängt. Ähnlich erging es Pfar­rer Werder von der Himmel­fahrt-Kirche (im Humboldt­hain), mehr dazu im nächs­ten Kapi­tel. Nahe dem Gesund­brun­nen, in der Badstraße, wirkte der oppo­si­tio­nelle Jugend­pfar­rer Bour­quin in der St. Pauls-Kirche. Auch in dieser Gemeinde gab es eine DC-Mehr­heit, doch konnte Bour­quin mit seinen Jungen und Mädchen noch auf das Gemein­de­haus auswei­chen. Zusam­men mit Pfar­rer Frobbe grün­dete er die Gruppe »Evan­ge­lium und Kirche«, in der sich enga­gierte Chris­ten zusam­men­fan­den. Ansons­ten ist noch die Zions­kir­che zu nennen, an der schon 1931 Diet­rich Bonhoef­fer »seine liebe Not« mit undis­zi­pli­nier­ten Konfir­man­den aus Mitte und dem Wedding hatte. Mit Super­in­ten­dent Fried­rich Rich­ter und Hermann Seedorf stan­den zwei Notbund-Pfar­rer an der Spitze der Gemeinde.
Im Umfeld der Beken­nen­den Kirche, aber auch in der katho­li­schen Kirche entwi­ckelte sich punk­tu­ell unmit­tel­ba­rer Wider­stand bzw. prak­ti­sche Soli­da­ri­tät mit Verfolg­ten des Nazi­re­gimes. Mehr dazu im Abschnitt »Der Krieg«.

Die Pogromnacht

Im Jahr 1938 sollte der Terror gegen die deut­schen Juden einen neuen Höhe­punkt errei­chen. Schon seit dem Juni muss­ten jüdi­sche Geschäfte gekenn­zeich­net sein, die Pässe der Juden erhiel­ten ein »J« einge­stem­pelt, und zwei Monate später wurde verkün­det, dass Juden ab dem folgen­den Jahr zwangs­weise zusätz­lich neue Vorna­men anneh­men muss­ten, die Männer »Israel«, die Frauen »Sarah«. Für den 9. Novem­ber 1938 war eine beson­dere Aktion vorge­se­hen, die für die Nazis eine histo­ri­sche »Wieder­gut­ma­chung« sein sollte. Denn am 9. Novem­ber 1918 wurde in Berlin die erste deut­sche Repu­blik ausge­ru­fen, die bei den Nazis so verhasst war und von ihnen als »Juden­re­pu­blik« bezeich­net wurde.

Anlass für die Progrom­nacht war das Atten­tat des 17-jähri­gen Herschel Grünszpan auf einen Ange­hö­ri­gen der deut­schen Botschaft in Paris, der damit gegen die Depor­ta­tion seiner jüdi­schen Eltern protes­tie­ren wollte. Am 7.11. schoss Herschel auf den Botschafts­an­ge­hö­ri­gen Ernst von Rath, der zwei Tage später starb. So soll­ten »die Juden« also am 9. Novem­ber ’38 dafür bezah­len, über­all im Reich wurden ihre Synago­gen abge­fa­ckelt, ihre Geschäfte zerstört und Tausende miss­han­delt, verschleppt, viele auf der Stelle ermor­det. Auch die Synagoge auf dem Hof der Brun­nen­straße 33 fiel dem Terror anheim, ebenso viele der jüdi­schen Geschäfte in der Brun­nen­straße, wie auch die Kauf­häu­ser Tietz und Held an der Ecke Vete­ra­nen­straße bzw. Inva­li­den­straße, sowie Wert­heim in der Rosen­tha­ler Straße. Der Augen­zeuge Erwin Reis­ler berich­tete: »Von den eigent­li­chen Ereig­nis­sen bin ich völlig über­rascht worden. Am Tag nach dem 9. Novem­ber ging ich dann umge­hend ins Stadt­zen­trum, um mir selbst ein Bild zu machen. Mein Ziel war die ehema­lige Arbeits­stätte meiner Schwes­ter, das Geschäft Pappel­baum in der Rosen­tha­ler Straße. Schon ab dem Vete­ra­nen­berg sah ich viele zerstörte jüdi­sche Geschäfte. Nachts waren sie geplün­dert worden, tags darauf wurde wohl wegen der Welt­öf­fent­lich­keit das Plün­dern verbo­ten. In der Brunnen‑, Inva­li­den- und Rosen­tha­ler Straße sah man die Verwüs­tun­gen. Am Vete­ra­nen­berg hatte man die Kauf­häu­ser Jandorf (Hertie) und Held völlig zerkloppt, das Inven­tar war auf die Straße gewor­fen worden. Die Bevöl­ke­rung ging vorbei, in der Mehr­heit mit bluten­dem Herzen.«
Herta Bütt­ner: »Noch am Morgen danach sah ich gegen acht Uhr Nazis am Rosen­tha­ler Platz mit langen Stan­gen wüten. Die Schei­ben der Kauf­häu­ser Held und Feder waren zerschla­gen, das Inven­tar heraus­ge­ris­sen. Auch Wert­heim war demo­liert. Man ging nur noch über Scher­ben. Alle, mit denen ich sprach, empfan­den die Aktion als furcht­bar.«

Dass es nach mehr als fünf Jahren der Nazi-Dikta­tur nicht zu offe­nem Protest gegen die Pogrome kam, ist verständ­lich. Denn jeder, der sich offen dage­gen wandte, musste mit Angrif­fen oder Verhaf­tung rech­nen. Trotz­dem gab es verein­zel­ten Wider­stand dage­gen, und einer der weni­gen Helden dieser Nacht war sicher der Vorste­her des Poli­zei­re­viers am Hacke­schen Markt, Wilhelm Krütz­feld. Zusam­men mit seinem Kolle­gen Willi Steuck (siehe »Das Ende«) griff er ein, als die SA-Horden die große Synagoge in der Orani­en­bur­ger Straße zerstö­ren woll­ten. Er ließ das Gottes­haus abrie­geln und durch die Feuer­wehr den bereits geleg­ten Brand wieder löschen. So konnte diese Synagoge bis zu ihrer Zerstö­rung durch die alli­ier­ten Bomber geret­tet werden. Der bekannte Schrift­stel­ler Heinz Knob­loch hat Wilhelm Krütz­feld mit seinem Buch »Der beherzte Revier­vor­ste­her« ein Denk­mal gesetzt.

Wie sehr diese Pogrom­nacht und die anschlie­ßende Juden­ver­fol­gung das Gewis­sen der Bevöl­ke­rung belas­tete, haben wir bei der Recher­che zu unse­rem Buch erlebt. Selbst die alten Leute, die diese Nacht bewusst miter­lebt haben, konn­ten oder woll­ten nichts darüber sagen, teil­weise spürt man heute noch die Scham darüber, dass sie damals nichts getan haben. Dieje­ni­gen groß­mäu­li­gen Anti­fa­schis­ten, die heut­zu­tage Vorwürfe gegen die nicht­jü­di­schen Bürger des Jahres 1938 erhe­ben, weil diese die Juden nicht vertei­digt haben, soll­ten sich glück­lich schät­zen, dass sie eine solche Zeit nicht erle­ben müssen. Es ist leicht, solche Sprü­che zu klop­fen, wenn man damit nichts riskiert.

Der Krieg

Als die Wehr­macht am 1. Septem­ber 1939 in Polen einmar­schierte, begann damit der Zweite Welt­krieg. Zu diesem Zeit­punkt gab es in Deutsch­land keinen öffent­li­chen Protest mehr gegen die Nazis, große Teile des Wider­stan­des waren zerschla­gen, die jüdi­sche Bevöl­ke­rung völlig entrech­tet. Doch weder Gestapo noch Volks­ge­richts­hof konn­ten verhin­dern, dass es immer noch und immer wieder auch neue Struk­tu­ren gab, die sich gegen die Nazi­herr­schaft wand­ten oder die die Opfer der Faschis­ten unter­stütz­ten.
So entstand 1941 im AEG-Werk in der Brun­nen­straße eine Wider­stands­gruppe um den Kommu­nis­ten Herbert Grasse. Sie berich­te­ten in ille­ga­len Publi­ka­tio­nen über örtli­che Miss­stände und riefen zur Sabo­tage auf. 1943 wurden in über 70 Berli­ner Betrie­ben von der Gruppe um Anton Saef­kow ille­gale Zellen aufge­baut, auch in den AEG-Werken Brunnen‑, Volta- und Acker­straße. Saef­kows Ziel war eine demo­kra­ti­sche Volks­re­gie­rung aller anti­fa­schis­ti­schen Menschen. Durch den Verrat eines Spit­zels im Juli 1944 wurde die Saef­kow-Gruppe von der Gestapo verhaf­tet, mehr als 60 Mitglie­der wurden hinge­rich­tet.
Heinz Müller aus der Brun­nen­straße 187 traf es schon früher. Der »halb­jü­di­sche« Kommu­nist verbüßte schon bis Ende der 30er-Jahre eine Haft­strafe wegen Wider­stands­ar­beit und wurde dann entlas­sen. Er führte seine poli­ti­sche Arbeit fort, hielt Kontakt zu ille­gal leben­den jüdi­schen Kommu­nis­ten sowie zum Unter­grund­ap­pa­rat der KPD. 1942 wurde er erneut verhaf­tet und im Jahr darauf im KZ Ausch­witz ermor­det.

Kurt Klinke aus der Stre­lit­zer Straße 18 wurde eben­falls wegen der Arbeit der Saef­kow-Gruppe verhaf­tet und starb unter der Folter der Gestapo. Andere über­leb­ten die Verfol­gung, wie Hugo Seidel aus dem Wein­bergs­weg 4. Schon in den 30er-Jahren verbüßte er eine drei­jäh­rige Zucht­haus­strafe. Bei der zwei­ten Fest­nahme im Februar 1942 konnte man ihm nichts nach­wei­sen. Er schloss sich dann einer Saef­kow-Betriebs­gruppe bei Osram an, wurde im August 1944 wieder verhaf­tet und zu acht Jahren Zucht­haus verur­teilt. Er über­lebte.
Auch Jugend­li­che, die sich kaum noch an eine Zeit vor dem Faschis­mus erin­nern konn­ten, verwei­ger­ten sich den Nazis oder leis­te­ten sogar aktiv Wider­stand gegen sie. In der Bernauer Straße zwischen Swine­mün­der und Acker­straße sowie am Gesund­brun­nen gab es »Edel­weiß­pi­ra­ten«. Einer von ihnen, Karl-Heinz Kapi­nos, berich­tete später: »Ich war in einer Gruppe, die resis­tent gegen die Hitler­ju­gend war, wir nann­ten uns die Edel­weiß­pi­ra­ten. Der Wirkungs­be­reich unse­rer zwölf bis zwan­zig Mann star­ken Gruppe erstreckte sich von Mitte bis zum Wedding. Dieser nörd­li­che Bezirk war das beson­dere Zentrum. Wir in Mitte waren sehr aktiv gegen die Hitler­ju­gend einge­stellt, jede Woche unter­nahm die HJ nämlich ihre Aufmär­sche. Wer dabei als Jugend­li­cher nur am Rande stehen blieb, wurde verprü­gelt. Mich und andere Freunde holte man mit Fußtrit­ten aus der Wohnung zum HJ-Dienst. Wir unter­nah­men verschie­dene Aktio­nen: So warn­ten wir, verklei­det als HJ-Führer, am Bahn­hof Fried­rich­straße ankom­mende Jugend­li­che vor der HJ. Wir halfen auch Menschen, die in Not waren. Zum Beispiel durch Bomben­an­griffe Geschä­digte oder deser­tierte Solda­ten, die wir in unse­rem Unter­stand versteck­ten. Auch einige mit »Ost« gekenn­zeich­nete osteu­ro­päi­sche Zwangs­ar­bei­ter versteck­ten wir so lange bei uns, bis wir an neue Quar­tiere kamen.«

Solidarität

Eine Reihe von Soli­da­ri­täts­ak­tio­nen mit den Opfern der Nazis wurden auf den vorhe­ri­gen Seiten schon vorge­stellt. Hier sollen noch einige weitere aufge­führt werden, die von Menschen aus der Gegend der Brun­nen­straße bekannt gewor­den sind.
Im Novem­ber 1939 zog die ehema­lige Tele­fo­nis­tin des Fern­sprech­amts Mitte und KPD-Stadt­ver­ord­nete Hilde Radusch mit ihrer Lebens­ge­fähr­tin in die Loth­rin­ger Straße 28 (heute Torstraße). Bald darauf mach­ten sie sich selbst­stän­dig und eröff­ne­ten einen »Priva­ten Mittags­tisch« am Rande des von vielen Juden bewohn­ten Gebie­tes.
Hilde Radusch später: »Auch als die Bewe­gungs­frei­heit der Juden immer bruta­ler einge­schränkt wurde, kamen sie an der Hinter­tür zu uns. Eine an die Brust gepresste Akten­ta­sche verdeckte den Juden­stern. Sie holten sich in Näpfen Essen ab. Durch Drehs bei der Abrech­nung konn­ten wir die Juden heim­lich mitver­pfle­gen. Unsere Arbeit wurde durch das tägli­che Abschied­neh­men immer depri­mie­ren­der. Einmal erhielt ich zum Geburts­tag einen Blumen­strauß im Auftrag zweier jüdi­scher Schwes­tern über­reicht, die längst depor­tiert worden waren und die das Geld dafür für mich hinter­legt hatten.
Erschüt­tert muss­ten wir immer öfter den Satz verneh­men: ‘Heute abend werde ich abge­holt’. Orga­ni­siert von der Jüdi­schen Gemeinde muss­ten sie sich dann zu Beginn des Trans­por­tes in der nahen Großen Hambur­ger Straße melden. Herz­zer­rei­ßende Szenen spiel­ten sich damals ab. Ein Schick­sal blieb mir noch nament­lich in Erin­ne­rung: Dr. Oettin­ger spielte mit Nazis Karten und ließ sie stets in der Hoff­nung gewin­nen, dadurch bei den Depor­ta­tio­nen übrig zu blei­ben. Eines Tages kam er und brachte uns seine letz­ten Reistü­ten. Er brauchte sie nun nicht mehr.«

Eine von Dr. Franz Kauf­mann gegrün­dete Hilfs­or­ga­ni­sa­tion für verfolgte Juden wurde 1943 zerschla­gen. Kauf­mann, selbst ein so genann­ter »Halb­jude«, stand mit seiner Gruppe beson­ders unter­ge­tauch­ten Juden bei, vor allem mit falschen Papie­ren, Nahrungs­mit­teln und der Beschaf­fung ille­ga­ler Quar­tiere. In diesem Zusam­men­hang wurden auch zwei Arbei­ter­frauen aus dem Gesund­brun­nen, Putbus­ser Straße 36, zu Gefäng­nis verur­teilt. Sie hatten unter ande­rem für verfolgte Juden Urkun­den gefälscht. Kauf­mann, der Leiter der Gruppe, wurde bald darauf im KZ ermor­det. Eine seiner engs­ten Mitar­bei­te­rin­nen, Helene Jacobs, erin­nert sich: »Mit Ille­ga­li­tät hatte ich nichts zu tun. Meine Welt ging kaputt, die wollte ich vertei­di­gen. Ich hatte am 30. Januar 1933, als Hitler Reichs­kanz­ler wurde, mein Vater­land verlo­ren. Beson­ders die anti­se­mi­ti­schen Nürn­ber­ger Gesetze (1935), die einen Teil der Bevöl­ke­rung will­kür­lich aus der Gemein­schaft ausschlos­sen, gingen mir unter die Haut. Diesen verfolg­ten Menschen wollte ich helfen.«

In der Rosen­tha­ler Straße 69 lebte Hein­rich Lenkeit, der zuvor schon mehr als drei Jahre wegen ille­ga­ler Partei­ar­beit für die KPD im Zucht­haus geses­sen hatte. Gegen Kriegs­ende wurde der Keller der Wohnung ein Sammel­punkt für über­le­bende Anti­fa­schis­ten und deser­tierte Solda­ten. Lenkeit berich­tete später: »Da der Keller gleich­zei­tig Durch­gänge zur Lini­en­straße und zur Klei­nen Rosen­tha­ler Straße hatte, konnte eine größere Anzahl Menschen dort Unter­schlupf finden. Am 2. Mai 1945, früh zwischen 6 und 7 Uhr, wurde es plötz­lich still. Es ist kaum möglich, das auszu­drü­cken, was die Menschen im Keller empfan­den. Ich rief Frauen, Männern und Kindern zu, dass der Krieg ein Ende gefun­den hätte, und ging nach oben auf die Straße…«

Nur wenige Häuser weiter, in der Rosen­tha­ler Straße 65, betrieb Albert Voß, der frühere Jugend­füh­rer der Christ­li­chen Gewerk­schaft, ein Zigar­ren­ge­schäft. Ehema­lige Aktive und Freunde der Bewe­gung, wie die Frau­en­re­fe­ren­tin Minna Amann und der aner­kannte Spre­cher christ­li­cher Arbei­ter­funk­tio­näre, der Wider­stands­kämp­fer Jakob Kaiser, fanden sich hier ein, tausch­ten Nach­rich­ten aus und berie­ten sich. Als nach Jakob Kaiser gefahn­det wurde, konnte er auch bei Albert Voß unter­tau­chen.

Manch­mal halfen aber auch Nach­barn beim Verste­cken. Der Jude Willi Katz schaffte es viele Jahre, in mehre­ren Häusern in Mitte unter­zu­tau­chen. So fand er vom Januar bis Septem­ber 1942 Quar­tier im Wein­bergs­weg 6 bei Moritz Moses, und ab Dezem­ber bis zum Mai 1943 im selben Haus bei der Fami­lie Schrö­der. Er über­lebte den Faschis­mus und arbei­tete danach als Sozi­al­für­sor­ger bei der Jüdi­schen Gemeinde.

Das Ende

»Viele stürm­ten nun in die verstreut liegen­den Bunker, die Kerkern glichen. Zwar konnte man dort nur wenig von der Lärm­hölle hören, die Bomben und Flug­zeug­ge­schwa­der, die sich Angriff und Gegen­an­griff durch die Flak liefer­ten, die Ohren lagen im Watte­bausch. Doch wehe denen, wenn solch ein Bunker getrof­fen wurde! Dann gab es wohl kaum ein Über­le­ben. Das Hitler­re­gime rech­nete sich aus, dass die Über­le­bens­chan­cen durch die Stabi­li­tät jener nun zuhauf gebau­ten Bunker größer sei als Wohn­häu­ser, die allein schon durch große Erschüt­te­run­gen mancher­orts wie Karten­häu­ser zusam­men­ge­fal­len waren. Der Bürger sollte zum sichers­ten Ort Zuflucht nehmen können, sollte wissen, dass alles getan werde, um ihm erhöhte Sicher­heit zu bieten. Die Luft darin war zum Schnei­den. Dicke Mauern hiel­ten Luft­zu­fuh­ren ab, so dass nur spär­li­che Luft­bla­sen übrig blie­ben. Dennoch jagte eine Masse Menschen schon bei Voralarm, manch­mal erst während des Haupt­alarms, in die Bunker, mit Koffern und Provi­ant.«

Man kann sich gut vorstel­len, dass gegen Ende des Krie­ges die Klagen aus der Bevöl­ke­rung über die Auswir­kun­gen und Ursa­chen des Krie­ges zunah­men. Zu schlecht ging es den Menschen nun: Es gab kaum noch zu essen, tage­lang kamen sie nicht mehr aus den Bunkern, und wenn, dann nur für wenige Stun­den. Doch die Nazis mach­ten Jagd auf alle, die ihrem Ärger Luft mach­ten, und sei es auch nur im kleins­ten Kreis. Jede kriti­sche Äuße­rung konnte mit dem Tod enden. So erging es z.B. dem 63jährigen Gustav Elfert aus der Stre­lit­zer Straße 10. Er wurde aufgrund seiner Klagen wegen »Wehr­kraft­zer­set­zung« zum Tode verur­teilt.
Der AEG-Arbei­ter Wilhelm Bösch starb noch am 10. April 1945, wenige Tage vor der Befrei­ung. Witze über Adolf Hitler konn­ten als »Annä­he­rung an den Feind« mit dem Tode bestraft werden…
Als am 22. April die Kämpfe zwischen den sowje­ti­schen Einhei­ten und den SS-Trup­pen zwischen Gesund­brun­nen und der Bernauer Straße tobten, hängte der partei­lose Schnei­der­meis­ter Wilhelm Schwarz in der Rheins­ber­ger Straße 31, wie viele andere, eine weiße Fahne aus dem Fens­ter. Doch am 23. April muss­ten sich die Russen noch mal zurück­zie­hen und Schwarz wurde auf Befehl des NSDAP-Orts­grup­pen­lei­ters Rein­hardt verhaf­tet, öffent­lich miss­han­delt und am Morgen des 25. April ’45 zusam­men mit zwei ande­ren Opfern an einem Gerüst an der Zions­kir­che aufge­hängt. Die Toten wurden zur Abschre­ckung drei Tage lang hängen gelas­sen. Ähnli­ches passierte in der Schwed­ter Straße.

Theo­dor Görner besaß in der Rosen­tha­ler Straße eine Drucke­rei, wo er Ille­ga­len Arbeit beschaffte. Im Laufe der Jahre konnte er zwar über 100 verfolgte Juden mit Lebens­mit­teln und Quar­tier unter­stüt­zen, trotz­dem über­leb­ten die meis­ten den Faschis­mus nicht. Über die Zerstö­run­gen ihrer Stadt erzählte später Hanni Nörper, Toch­ter von Theo­dor Görner: »In der Elsäs­ser Straße, dann am Rosen­tha­ler Platz, wurden Büro­mö­bel aus bren­nen­den Häusern gebor­gen. Fran­kes Möbel­la­ger brannte lich­ter­loh und hatte alle umlie­gen­den Häuser nebenan, über die Straße und Hinter­straße mit ange­zün­det.«
Die Flucht von Mitar­bei­tern aus Hitlers letz­tem Aufent­halts­ort, dem Bunker der Reichs­kanz­lei in der Wilhelm­straße, endete ausge­rech­net im Wedding, dem alten »roten« Arbei­ter­be­zirk. In der Nacht zum 2. Mai 1945 floh der Befehls­ha­ber des »Führer­bun­kers«, Gene­ral­ma­jor Mohnke, über die Brun­nen­straße zum Humboldt­hain. Dort hatte die 10. SS-Panzer­di­vi­sion zuletzt ihren Gefechts­stand. Doch durch deren sinn­lo­sen Versuch, das Dutzend­jäh­rige Reich noch um ein paar Tage zu verlän­gern, muss­ten noch mal unzäh­lige Menschen ster­ben. Der Nazi­trupp jedoch zog noch ein paar hundert Meter weiter und wurde dann von sowje­ti­schen Solda­ten in der Prin­zen­al­lee gefan­gen­ge­nom­men.

[Teile dieses Abschnitts bauen auf Infor­ma­tio­nen aus der Reihe »Wider­stand 1933–1945« von Hans-Rainer Sand­voß auf.]

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