Zwischen Berlin und Potsdam

Von besse­ren Menschen

Ein guter Anfangs­punkt für die Umrun­dung West-Berlins ist der Bahn­hof Staa­ken ganz im Westen, gegen­über dem Bran­den­bur­ger Tor. Den erreicht man mit der Regio­nal­bahn.
Nicht immer ist die lange Anfahrt lang­wei­lig. An einem schö­nen Früh­lings­tag war ich zunächst im geräu­mi­gen Fahr­rad­ab­teil alleine. An der Fried­rich­straße stieg eine gut geklei­dete Dame mit Kinder­wa­gen zu. Sie holte mit zärt­li­chem Gegurre das Kind heraus, zog ihm die gehä­kel­ten Schüh­chen aus und wieder an, strei­chelte es, lächelte es an, legte es wieder hin, deckte es sorg­sam zu und machte dabei die ganze Zeit liebe­volle Geräu­sche und Bewe­gun­gen.
Im Haupt­bahn­hof kam er dann mit seinem Fahr­rad. Dass er ein Gutmensch ist, erkannte ich an der Art, wie er sein Rad gegen meines anlehnte. Perfekt, mit mini­ma­lem Platz­ver­brauch. Zwei inein­an­der gescho­bene Räder, die zusam­men kaum mehr Platz einnah­men als eines alleine. Mit dieser Tech­nik könnte man wohl hundert Räder hier unter­brin­gen, aber nun stan­den nur zwei in der Ecke des riesi­gen, fast menschen­lee­ren Abteils, und gegen­über stand der Kinder­wa­gen. Soll­ten aber doch noch drei Radwan­der­gruppe einstei­gen, war das Gute Beispiel schon gege­ben.
Dann begann der Gutmensch nach­zu­den­ken und fragte, wie weit ich fahre. Er schaute sich auf der aushän­gen­den Karte genau an, wo Staa­ken ist, damit er recht­zei­tig mein Rad wieder befreien könne.
Nach dem Bahn­hof Zoo bewegte sich die Dame mit dem Kinder­wa­gen Rich­tung Tür. Als das Kind anfing zu schreien, sprach sie streng ein Wort in einer frem­den Spra­che. Das Kind war sofort still. Der Gutmensch wandte sich an das leere Abteil mit den Worten: „Das ist ja schreck­lich. Da müsste man eigent­lich eingrei­fen.” Ich wollte am frühen Sonn­tag­mor­gen nur meine Ruhe haben und schaute krampf­haft aus dem Fens­ter. Da schrie das Kind wieder, und die Dame sprach zwei Sätze. Der Gutmensch stand auf, ging zu ihr hin, und fragte: „Wie alt ist Ihr Kind?” – „Warum Sie wollen wissen?” – „Weil sie zu ihm reden wie mit einem Erwach­se­nen. So kann Ihr Kind sich nicht entwi­ckeln. Als Mutter haben Sie doch sicher noch andere, bessere Mittel zur Verfü­gung.” – Welche Sprach­ge­walt!
Die Frau schaute hilf­los in ihren Kinder­wa­gen, ich aus dem Fens­ter. Ich wollte hier nur raus, aber der Zug fuhr quälend lang­sam und blieb in Stre­sow auch noch minu­ten­lang stehen. Nun sagte niemand mehr was.
Die Frau mit Kind stieg in Span­dau aus. Ich musste noch bis Staa­ken aus dem Fens­ter schauen, um keinen Anlass für ein Gespräch zu bieten. Im genau berech­ne­ten letz­ten Augen­blick nahm der Gutmensch sein Rad weg. Ich schaute mir die Stelle an, wo seine Hinter­achse meinen Rahmen berührt hatte. Ich fand keinen Krat­zer; aber er bemerkte, dass ich es kontrol­lierte. Hoffent­lich führt er von dem Tag an immer ein paar Stück­chen Schaum­gummi mit.
Der Bahn­hof Staa­ken liegt nun mitten im Stadt­teil Staa­ken, also in Berlin. Dennoch war hier die Mauer. Die Briti­sche Besat­zungs­macht brauchte nämlich einen eige­nen Flug­ha­fen, und der Flug­ha­fen Gatow lag halb in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone und nur halb im Briti­schen Sektor von Berlin. Nach einem Gebiets­tausch lag auf einmal der ganze Flug­ha­fen in West­ber­lin, aber West-Staa­ken im Osten. Als die DDR merkte, dass die zuge­hö­ri­gen Katas­ter-Unter­la­gen alle im Rathaus Span­dau lagen, war es zu spät. Die Staa­ke­ner wurden damals nicht gefragt. Die Mauer kam übri­gens erst viel später.
Das erste Stück Mauer­weg gegen den Uhrzei­ger­sinn ist dann viel­leicht etwas eintö­nig. Hinter Fort Hahne­berg muss man zunächst einmal endlos die Bundes­straße 2 entlang durch die Einsam­keit. Berlin ist weit weg, hinter der Havel. Irgend­wann fährt man am Land­schafts­fried­hof Gatow vorbei. Hier, von Berlin aus jwd, darf man sich nach isla­mi­schen Vorschrif­ten begra­ben lassen.
An dem Tag hatte ich mich lange gefreut auf das Stück, das am ganzen Groß-Glie­ni­cker See entlang verläuft. Der See war in der Maisonne mit blühen­dem Flie­der wirk­lich wunder­schön. Der ehema­lige Grenz­be­wa­chungs­weg direkt am Ufer wurde nach der Wende neu asphal­tiert und als Mauer­weg ausge­schil­dert. Das Ufer ist steil, und oben stehen Villen.
Dann war der Weg auf einmal versperrt. Kein Hinweis, kein Schild, einfach ein ziem­lich neuer Zaun. Dahin­ter war und ist heute noch immer Erde für einen neuen Garten aufge­schüt­tet. Zwei Villen­be­sit­zer haben ihr Grund­stück einfach quer über den Radweg verlän­gert und einge­zäunt.
Die Spuren im Sand weisen den Weg: Man muss den Radweg im rech­ten Winkel verlas­sen und kann sich nach einem weite­ren rech­ten Winkel über den einen Meter brei­ten Sand­strand zwischen dem See und dem neuen Zaun quälen. Nach dem zwei­ten Grund­stück schlägt man noch­mals zwei Haken und ist wieder auf dem asphal­tier­ten Radweg. Die Besit­zer des zwei­ten Grund­stü­ckes haben quer über den ehema­li­gen Weg eine Hecke gepflanzt. Die ganze Lage erin­nert an Stra­ßen und Wege, die im August 1961 plötz­lich unter­bro­chen wurden. Weni­ger lebens­ge­fähr­lich, aber doch die Menschen verach­tend, die hier einfach der ausge­schil­der­ten Stre­cke folgen wollen.
Ich fuhr weiter. Die Villen oben werden immer prot­zi­ger. Hier ist viel neues Geld verbaut. Balkone und Terras­sen mit Seeblick, Garten mit Hang­lage, unten dann ein Garten­zaun und dahin­ter der öffent­li­che Radweg am Ufer entlang. See, Sonne, Flie­der, glück­li­che Menschen in blühen­den Land­schaf­ten.
Bis der Weg dann wieder versperrt war – und immer noch ist. Dies­mal kann man aber nicht durch den Sand drum herum. Inzwi­schen gibt es nämlich links und rechts vom Radweg einen Zaun, und nun auf einmal ein Geflecht von Ketten quer über den Weg. Eine Grund­stücks­breite weiter noch einmal solche Ketten, und dahin­ter geht der Weg weiter, uner­reich­bar. Ich war gefan­gen wie der Aal in der Reuse. Im Garten spielte ein junger Vater liebe­voll mit seiner Toch­ter. Ich fragte ihn, wo der Weg denn hier weiter­gehe. Nirgendwo. Die Stadt habe ihn falsch ausge­schil­dert. Ich hätte schon vor eini­gen Kilo­me­tern nach oben auf die Straße gemusst. „Ja, muss ich denn jetzt ganz zurück?” – „Sie können meinet­we­gen auch da stehen blei­ben.” Dieser Vater hatte jeden­falls Mittel, seine Toch­ter auf ihr zukünf­ti­ges Leben vorzu­be­rei­ten.
Während ich zurück radelte, dann den Berg hinauf und oben auf der Straße wieder an densel­ben Villen entlang, schaute ich mir die prot­zi­gen Fassa­den und die Messing­schil­der an den Haus­tü­ren an, auf denen nur Initia­len stehen, keine Namen, und dachte nach, dass es doch gut gere­gelt ist. Diese Menschen verdie­nen sehr viel Geld, weil sie für unsere Wirt­schaft, und damit für uns alle, hart arbei­ten. Weil es sehr unan­ge­nehm ist, immer wieder Leute zu entlas­sen, bekom­men sie zum Ausgleich aller­lei Boni. Leis­tung muss bezahlt werden, sonst würde ja kein Mensch noch arbei­ten. Und der Sinn eines höhe­ren Gehal­tes ist nun einmal, dass man sich mehr leis­ten kann als andere. Unter­schiede müssen sein, weil Konkur­renz ja gut ist.
Ein Problem entsteht aber, wenn man so viele Häuser, Segel­boote, Renn­pferde und Autos besitzt, wie man gebrau­chen kann, in jedem Zimmer einen Kamin und eine Musik­an­lage, in jedem Keller in Schwimm­bad und eine Sauna und immer noch Geld übrig hat. Dann geht es nicht mehr weiter. Was kann man nun noch anschaf­fen, um sich von weni­ger Erfolg­rei­chen zu unter­schei­den?
Ganz einfach: Man leis­tet sich etwas, von dem es nur wenig gibt, und freut sich daran, dass man weni­ger erfolg­rei­che Schlu­cker davon ausschlie­ßen kann. Seen und ihre Ufer sind wunder­schön, und viele Menschen gehen oder radeln gerne an ihnen entlang. Gerade Menschen, die sich keinen eige­nen Garten leis­ten können. Wenn man ihnen das dann verbie­ten kann und sie zusam­men­treibt auf klit­ze­klei­nen öffent­li­chen Bade­strän­den, macht der eigene Besitz viel mehr Freude. Man hat nicht nur seine Villa, seinen Garten und die Aussicht, man weiß auch, das andere noch nicht einmal die Aussicht und das Wasser genie­ßen können.
In einer Zeit, in der Bundes­prä­si­den­ten nicht in Belle­vue wohnen wollen, weil sie meinen, es wäre schlecht für ein Kind, im Schloss aufzu­wach­sen, entsteht hier neuer Feuda­lis­mus. Aus Erfolg entwi­ckelt sich Reich­tum und Macht, aus Reich­tum und Macht noch mehr Reich­tum und noch mehr Macht, und wenn das ein paar­mal vererbt wird, ist ein neuer Adel entstan­den.
Adel fängt immer mit Raub­rit­tern an, und in dem Stadium sind wir jetzt. Fried­rich Wilhelm I. und sein Sohn hatten den preu­ßi­schen Adel auf Vorder­mann gebracht und die preu­ßi­schen Tugen­den geför­dert. Jener gezähmte alte Adel hat uns jahr­hun­der­te­lang Gutes gebracht, bis hin zum Wider­stand vom 20. Juli 1944. Jetzt, wo er abge­dankt hat, muss sich eben ein neuer bilden.
Dafür sitzt man in der Falle auf dem Mauer­weg, wenn man nichts Besse­res zu tun hat als Rad zu fahren, während andere schlaf­los an all die Menschen denken, die sie entlas­sen müssen.
Da die Pots­da­mer Land­schaft äußerst wäss­rig ist und es wenig Brücken und Fähren gibt, muss man an der Havel den Mauer­weg verlas­sen, die Wann­see­fähre nehmen und einen großen Umweg radeln, bis man an der Glie­ni­cker Brücke wieder auf ihn trifft.
Hier kreuzt der Mauer­weg die alte Reichs­straße 1. Wenn Sie durch Pots­dam fahren und dann immer weiter, errei­chen Sie den Ort, wo Karl der Große zum Kaiser gekrönt wurde. Dahin­ter hört Deutsch­land auf. Wenn Sie in die andere Rich­tung, also durch Berlin und immer weiter fahren, errei­chen Sie den Ort, wo Fried­rich III./I. sich selbst zum König krönte; aber schon lange davor hat Deutsch­land aufge­hört, bei Küstrin.
Die Glie­ni­cker Brücke wurde zur Zeit des Kalten Krie­ges für den Austausch von Spio­nen benutzt, ansons­ten kam hier niemand durch. Oben drüber hatte die DDR die Inschrift „Brücke der Einheit“ ange­bracht.
Steven Spiel­berg hat im Herbst 2014 die Brücke vier Tage sper­ren lassen, um hier einen histo­ri­schen Film zu drehen. Offen­bar kann man so eine Brücke weder im nahe­ge­le­ge­nen Film­park Babels­berg noch im Compu­ter über­zeu­gend nach­bauen. Vier Tage war der Verkehr zwischen Berlin und Pots­dam lahm­ge­legt. Die beiden Städte sind entschä­digt worden: sie haben über acht­hun­dert Euro erhal­ten für all die Arbeit mit der Sper­rung.
Wenn man aber auf dem Mauer­weg bleibt, erreicht man Klein Glie­ni­cke, weit weg vom Glie­ni­cker See und Groß-Glie­ni­cke. Es handelt sich um zwei Pots­da­mer Beinahe-Exkla­ven, die nach West-Berlin hinein­ra­gen. In ihnen liegen wieder kleine Berli­ner Exkla­ven; aber die kann man heute nicht mehr erken­nen.
Dahin­ter, am Grieb­nitz­see, geht es wieder los: Die Besit­zer der Villen am See haben die Ufer­pro­me­nade verbar­ri­ka­diert. In regel­mä­ßi­gen Abstän­den führen zwischen den Villen öffent­li­che Trep­pen hinun­ter zum See, aber da geht es dann nicht weiter. Der Bürger­meis­ter von Pots­dam hat Schil­der aufstel­len lassen, auf denen er erklärt, dass die Stadt daran arbei­tet, die Prome­nade wieder zugäng­lich zu machen. Einige dieser Schil­der sind ordent­lich weiß über­malt. Offen­bar denken die Besit­zer der Grund­stü­cke, dass sie damit etwas errei­chen.
Die Straße heißt Karl-Marx-Straße, nach einem alten, in dieser Villen­ge­gend doch längst verges­se­nen Kommu­nis­ten.
In drei dieser Villen hatten übri­gens Stalin, Truman und Chur­chill gewohnt, als sie damit beschäf­tigt waren, im nahe­ge­le­ge­nen Schloss Cäci­li­en­hof den preu­ßi­schen Staat aufzu­he­ben: Stalin und Truman in der heuti­gen Karl-Marx-Straße 27 bzw. 2, Chur­chill in der davon abzwei­gen­den Virch­ow­straße 23. Die mach­ten eben­falls, was sie woll­ten.
Auch auf der ande­ren Stra­ßen­seite stehen Villen. An deren Zäunen hängen Plakate, die einen freien Zugang zum Ufer fordern. Gute Nach­bar­schaft gibt es hier wohl eher nicht.
Der Mauer­weg verlässt nun Pots­dam und führt in großen Zacken um das südli­che Berlin herum. Hier ist es im Früh­jahr am schöns­ten. Am Busch­gra­ben und Teltow­ka­nal blühen aller­lei Ufer­pflan­zen. Bei Lich­ter­felde blühen hunderte Kirsch­bäume, die Japan aus Freude über die Wieder­ver­ei­ni­gung Berlin schenkte. Sie stehen selb­ver­ständ­lich preu­ßisch in Reih und Glied.
Immer wieder hat man dank der Felder zur Rech­ten weite Aussicht über die Bran­den­bur­ger Land­schaft. Im Sommer ändert sich das. Weil über­all Mais für Fahr­zeug­kraft­stoff ange­baut wird, kann man nichts mehr sehen.

Aus: Suche nach der Mitte von Berlin

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