Es ist mutig von der Berliner Zeitung, den Ruf „Keine Gewalt“ von 1989 in den heutigen Kontext zu stellen und zu fragen, was von der Gewaltlosigkeit von damals noch heute gültig sein kann.
1989 war ich 25 Jahre alt, lebte in Berlin, Prenzlauer Berg und hatte zwei Kinder, ein und drei Jahre alt. Mein Mann hatte den Dienst mit der Waffe verweigert und war zu der Zeit Bausoldat in Prora. So durfte er nur alle sechs Wochen für drei Tage nach Hause. Was im Oktober 1989 geschah und mein Leben in diesen Wochen bestimmte, bekam er nur aus der Ferne mit. Wir waren beide katholisch, hatten aber auch sehr intensive Kontakte zur evangelischen Kirche. Seit September 1989 ging ich regelmäßig zu den Fürbittandachten in die Gethsemanekirche, in der seit dem 2. Oktober eine Gruppe junger Leute eine Mahnwache für die politisch Inhaftierten hielt.
Meine Freundin, Angela Kunze, zog am 3. Oktober in die Gethsemanekirche und begann dort am 4. Oktober eine Fastenaktion – als „konkretes Angebot gewaltfreien Widerstandes“. Ich besuchte sie täglich mit meinen Kindern und war sehr erfüllt von Gandhis Ideen zum gewaltlosen Widerstand. Erst kürzlich hatte ich seine Autobiografie, die in der DDR erschienen war, gelesen. Wir tauschten uns aus und beteten gemeinsam.
Aufgeheizte Atmosphäre
Nie werde ich die aufgeheizte Atmosphäre von damals vergessen. Auf der einen Seite die Vorbereitungen für den 40. Jahrestag der DDR mit der Staatspropaganda – auf der anderen Seite der Unmut der Bevölkerung und der erstarkende Protest gegen das DDR-Regime. Die Gethsemanekirche wurde in Berlin zu einem Zentrum des Widerstandes. Neben der Mahnwache, der Fastenaktion und den täglichen Fürbittandachten, gab es hier auch ein Kontakttelefon, über das Informationen von Protestaktionen in der ganzen DDR gesammelt und weitergegeben wurden. Immer mehr Menschen besuchten um den 7. Oktober herum die Kirche und kamen zu den abendlichen Fürbittandachten. Die Gebete und Gesänge halfen, Wut und Angst zu überwinden und sich gegenseitig zu ermutigen.
Meine Mutter, die sich noch sehr gut an den 17. Juni 1953 erinnerte, nahm mir in der Zeit manchmal die Kinder ab und ging auch mit mir in die Gethsemanekirche. Am 6. Oktober sagte sie einen salomonischen Satz, den ich nicht vergessen werde: „Die Stimmung ist wie am 17. Juni – aber diesmal klappt’s.“ Ich schaute sie zweifelnd an. Würde sie recht behalten? Mit vielen anderen teilte ich die Angst vor der „chinesischen Lösung“. Am 4. Juni waren die friedlichen Proteste in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen worden.
Die Pfarrer in den Kirchen riefen zu Gewaltlosigkeit auf, beriefen sich auf biblische Texte, zitierten die Bergpredigt und bezogen sich auch auf Gandhi und Martin Luther King. „Gebt der Polizei keinen Anlass, mit Gewalt zu reagieren!“ Sobald einer der Protestierenden angefangen hätte, mit Steinen zu werfen, hätte die Polizei einen Grund gehabt, gewaltsam vorzugehen. Gewaltfreiheit war rein aus Vernunftgründen das Gebot der Stunde und eine Voraussetzung für den Erfolg des Widerstandes.
Was folgte, ist bekannt: friedliche Demonstrationen in Berlin, Potsdam, Plauen und Dresden. Festnahmen Hunderter am 7. und 8. Oktober – und dann das „Wunder von Leipzig“ am 9. Oktober. Trotz massiver Panikmache und Androhung von Polizeigewalt seitens des DDR-Regimes kamen 70.000 Menschen zur Montagsdemonstration. Statt des Einsatzes von Gewalt wurde ein Dialogprozess eingeleitet, in dessen Folge überall Runde Tische eingerichtet wurden, in denen Oppositionelle mit Regierungsverantwortlichen über notwendige Reformen diskutierten. Am 9. November fiel die Mauer.
Damit all das nicht in Vergessenheit geriet, erarbeitete eine Projektgruppe, bestehend aus Zeitzeugen und Historikern, im Auftrag des Ökumenischen Arbeitskreises Prenzlauer Berg zum 20. Jahrestag der Friedlichen Revolution eine Ausstellung mit dem Titel „Keine Gewalt“, die im Juni 2009 in den Schönhauser Allee Arcaden, also in unmittelbarer Nachbarschaft zur Gethsemanekirche, gezeigt wurde. Als Leiterin des Ökumenischen Arbeitskreises und Projektleiterin war es mir wichtig, in der Ausstellung nicht nur zu erzählen, was im Herbst 1989 geschehen ist, sondern die historischen Ereignisse mit der Botschaft der Gewaltlosigkeit zu verbinden.
Die Ausstellung umfasste daher zwei Teile, einen historischen Teil über die friedliche Revolution und einen ideengeschichtlichen Teil, der einen Bogen von der Bergpredigt Jesu, über Gandhi und Martin Luther King bis in die Gegenwart schlug. Die Ausstellung fand viel Beachtung und wurde als Wanderausstellung an zwölf weiteren Orten, unter anderem in München und Amsterdam, gezeigt. Mit Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR Diktatur, die bereits die Ausstellung von 2009 gefördert hatte, und des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung entstand 2021 die Website „Keine Gewalt – Friedliche Revolution und der Weg der Gewaltlosigkeit“ (www.keinegewalt.com). Sie stellt eine inhaltliche Erweiterung der Ausstellung von 2009 dar und beinhaltet zusätzlich zahlreiche O‑Töne, Dokumente und Zeitzeugeninterviews.
Als die Website am 1. Februar 2022 online ging, ahnte noch keiner, dass wenige Wochen später der Krieg in der Ukraine ausbrechen würde. Wer sich danach gegen Waffenlieferungen und für einen gewaltfreien Weg aussprach, riskierte den Vorwurf, realitätsfern oder ein Parteigänger Putins zu sein. Für die Friedensorganisationen begann eine schwere Zeit. Sie wurden belächelt und beschimpft. Gewaltfreier Widerstand wurde mit Passivität gleichgesetzt. All die Erfahrungen, die seit Gandhi überall auf der Welt mit gewaltfreiem Widerstand gemacht wurden, schienen weder die Politik noch die Medien zu interessieren.
Kein passives Hinnehmen
Gewaltfreier Widerstand bedeutet aber nicht passives Hinnehmen von Unrecht, sondern entschiedener Kampf gegen das Unrecht. Aber mit gewaltfreien Mitteln. Er erfordert fundiertes Wissen um die Prinzipien der Gewaltlosigkeit, Kreativität, klares strategisches Denken und Opferbereitschaft. Dass es lohnenswert ist, sich mit den Grundlagen und bisherigen weltweiten Erfahrungen mit Gewaltfreiheit zu beschäftigen, beweist die viel zitierte Studie von Erica Chenoweth und Maria J. Stephan (2006), die anhand von 323 Aufständen und Revolutionen zwischen 1900 und 2006 nachweist, dass gewaltlose Proteste bewaffneten Kämpfen langfristig überlegen sind.
Die Website „Keine Gewalt“ ermöglicht einen überblicksartigen Einstieg in die Theorie und Praxis gewaltfreien Handelns. Sie untergliedert Gewaltlosigkeit in drei Themenkomplexe: in gewaltfreien Widerstand, in Versöhnungsarbeit nach kriegerischen Konflikten und in den Einsatz für eine friedliche Welt. Dazu werden Beispiele aus aller Welt präsentiert, wie zum Beispiel das Parents Circle Family Forum (PCFF), einer Vereinigung jüdischer und palästinensischer Eltern, die ihre Kinder in den Kämpfen verloren haben. Die verwaisten Eltern teilen ihren Schmerz und setzen sich für Versöhnung und Frieden ein. Auch im aktuellen Konflikt erheben sie im Verein mit anderen israelischen Menschenrechtsorganisationen ihre Stimme.
Die Erfahrung der Friedlichen Revolution 1989 hat mich zu einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Konzept der Gewaltlosigkeit geführt. 2022 trat ich dem Internationalen Versöhnungsbund bei, der ältesten weltweiten Friedensorganisation. Ich verfolge die aktuellen Entwicklungen mit Sorge, aber auch mit der Hoffnung, dass die Menschheit nach dem aktuellen Rückfall zum Glauben an die Logik der Gewalt, den Glauben an die Macht der Gewaltlosigkeit (wieder-)findet und in diesem Glauben nach neuen gewaltfreien Wegen der Konfliktbearbeitung sucht.
Katharina Jany
[ Dieser Text erschien zuerst in der Berliner Zeitung und steht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0 ]
Foto: Bundesarchiv, Bild 183‑1989-1104–005 / CC-BY-SA
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