Kollektiv

Damals in der Haupt­­schule hat man sich nicht die Mühe gemacht, uns die latei­ni­schen Begriffe für Haupt‑, Tu- oder Eigen­schafts­wör­ter beizu­brin­gen. Bis heute komme ich damit noch durch­ein­an­der, tja, was Häns­chen nicht lernt…
Eines dieser Worte war “kollek­tiv”, das es groß geschrie­ben auch als Haupt­wort (Substan­tiv!) gibt. Wie erklärt man aber Kreuz­ber­ger Gören, was “kollek­tiv” bedeu­tet? Meinem Lehrer Bernd fiel das nicht schwer, denn er lebte als 68er Student in einer der ersten Wohn­kol­lek­tive, die später Wohn­ge­mein­schaf­ten hießen. Anders als bei den Kommu­nen hatten die Leute dort eigene Zimmer, was die Sache nicht weni­ger span­nend machte. Wenn Bernd von dort erzählte, war es in der Klasse still. Damals, Mitte der 70er, waren “Wohn­kol­lek­tive” noch etwas Außer­ge­wöhn­li­ches. Vor allem, als wir erfuh­ren, dass auch Jugend­li­che in unse­rem Alter dort lebten und genauso viel Rechte hatten, wie die Erwach­se­nen. Dazu gehörte auch, dass man die Erwach­se­nen duzen konnte. Dass Bernd das auch seinen Schü­lern erlaubte, machte ihn in der übri­gen Lehrer­schaft nicht beliebt. Dabei war er ganz sicher kein Verfech­ter der anti­au­to­ri­tä­ren Erzie­hung, aber allein durch das Duzen war er in den Augen der Kolle­gen schon verdäch­tig. Wenn die gewusst hätten, dass einige der Schü­ler sogar in seiner WG über­nach­te­ten, wäre der Skan­dal perfekt gewe­sen.

Das Wort Kollek­tiv hörte man oft, wenn man aus Verse­hen mal die Nach­rich­ten im DDR-Fern­se­hen anschal­tete. Offen­bar hießen die Beleg­schaf­ten in den Betrie­ben dort so. Bernd erzählte uns aber, dass die nicht wirk­lich kollek­tiv orga­ni­siert waren, weil nämlich nicht alle die glei­chen Rechte hatten. Er dauerte ein paar Jahre, bis ich die ersten größe­ren, wirk­li­chen Kollek­tive kennen­lernte. Die besetzte Feuer­wa­che in der Reichen­ber­ger Straße, das Kern­ge­häuse in der Cuvry­straße, über­haupt in vielen der Häuser, die 1980 in Kreuz­berg besetzt wurden.
Da gab es meist das Plenum, auf dem alles bespro­chen wurde, was entschie­den werden musste. In den eher “intel­lek­tu­el­len” Häusern, da wo die Studen­ten wohn­ten, gingen solche Plenen gerne auch mal über mehrere Stun­den — täglich!
Es gab Häuser mit Kommu­nen, alte Fabrik­ge­bäude mit riesi­gen Räumen. Hier lagen Dutzende Matrat­zen neben­ein­an­der, alle schlie­fen gemein­sam. Das beflü­gelte natür­lich meine Fanta­sie, die aller­dings stets enttäuscht wurde, wenn ich mal dort über­nach­tete.
Immer gab es auch einen großen, meist selbst gezim­mer­ten Tisch, und wohl niemals, in keiner Kommune, war dieser Tisch jemals leer oder sauber. Kommu­n­e­be­woh­ner grenz­ten sich auch in dieser Bezie­hung streng von ihrer bürger­li­chen Herkunft ab. Obwohl die meis­ten von ihnen tief im Herzen Spie­ßer geblie­ben sind, wie ich bald merkte.

In dieser Zeit wurde ich vom Gedan­ken infi­ziert, dass kollek­ti­ves Leben möglich ist und dass es viel cooler ist, als das normale Leben in einer Wohnung. Ich besuchte Land­kom­mu­nen, wohnte einige Zeit in einer alten Burg in Nieder­sach­sen, in der sich 1983 die Auto­no­men als poli­ti­sche Bewe­gung defi­nier­ten. In kollek­ti­ven Werk­stät­ten sah ich, dass nicht das Geld den Maßstab für die Arbeit bestim­men musste. Als Gegen­leis­tung für’s Wohnen arbei­tete ich in der Holz­werk­statt, in der Drucke­rei und auf dem Feld mit. Wenn ich keine Lust hatte, ließ ich es sein, jeder steckte das rein, was er konnte und wollte. Und das klappte.
Die Idee war das gemein­same Projekt, meist ein Haus, aber z.B. auch (in Kopen­ha­gen) ein altes Thea­ter, in dem nun Konzerte statt­fan­den. Dass es alles auch eine Nummer größer funk­tio­nierte, sah ich 1980 in Gorle­ben. Auf dem besetz­ten Gelände des geplan­ten Atom­la­gers für Kern­brenn­stäbe lebte ich mit hunder­ten Anti-AKW-Akti­vis­ten in selbst gebau­ten Hütten. Bis zu 2000 waren wir an den Wochen­en­den, orga­ni­siert in klei­nere Berei­che des Wider­stands­dorfs. Es gab das Freund­schafts­haus, und die großen Küchen­zelte, Gulasch­ka­no­nen, Bade­wan­nen zum Geschirr­spü­len, Baugrup­pen, einen Pira­ten­sen­der und sogar eigene Pässe, auf denen stolz unser “Repu­blik Freies Wend­land” stand.
Auch im däni­schen Chris­tia­nia sah ich mir an, wie das Zusam­men­le­ben vieler Menschen orga­ni­siert werden kann, ohne dass die Reichen das Sagen haben und die ande­ren sich danach rich­ten müssen.

Kollek­tiv wohnen, arbei­ten, auch lernen, das hat sich in mir fest­ge­setzt. Dage­gen steht der Frust der Verein­ze­lung. So wie ich es erlebt habe, gibt es das Kollek­tive heute kaum noch. Viele Projekte sind geschei­tert, manche aber gibt es bis heute. In Kreuz­berg, in Leip­zig, in Kopen­ha­gen, im eins­ti­gen “Wessi­land”. Kollek­tiv leben ist sicher schwie­ri­ger, weil man Teil einer Gruppe ist und nicht nur für sich allein verant­wort­lich. Wer aber mit ande­ren zusam­men lebt und viele Dinge zusam­men orga­ni­siert, der trägt auch für das Ganze die Verant­wor­tung mit. Man ist dazu gezwun­gen, die eige­nen Entschei­dun­gen zu  erklä­ren und zu vertre­ten — also auch, sie sich selber bewusst zu machen. Und das kann schwer sein, erst recht, wenn es nicht nur um Orga­ni­sa­to­ri­sches geht, sondern z.B. um Bezie­hun­gen. Soli­da­ri­sche, gleich­be­rech­tigte Diskus­sio­nen sind die Voraus­set­zung dafür, dass das klappt. Sie geben aber auch allen die Möglich­keit, sich weiter­zu­ent­wi­ckeln, zu lernen, andere Meinun­gen zu akzep­tie­ren und sich damit ausein­an­der­zu­set­zen. Kollek­tiv ist das genaue Gegen­teil von verein­zelt. Und genau deshalb werden z.B. poli­ti­sche Gefan­gene oft in Einzel­haft gesteckt: Um sie als kollek­tive Menschen zu brechen.

Die ganze Gesell­schaft ist so aufge­baut, dass die Menschen sich möglichst nicht zusam­men­tun. Man will uns das kollek­tive Denken austrei­ben, denn Gemein­schaf­ten sind viel schwe­rer zu beein­flus­sen und zu kontrol­lie­ren, als isolierte Bürger. Vieles davon haben wir schon gefres­sen: Arabisch­stäm­mige Groß­fa­mi­lien, Stra­ßen­gangs, Rocker­grup­pen, Punks — sie sind auf ihre Art Kollek­tive, die uns als Gefahr präsen­tiert werden. Wir lehnen sie ab, während wir sie gleich­zei­tig um ihre Gemein­schaft benei­den.
Gleich­zei­tig lebt heute schon die Hälfte der Berli­ner Bevöl­ke­rung allein, selbst die Fami­lien als kleinste natür­li­che Form des Kollek­tivs ist auf dem Rück­zug.
Ich glaube aber, Kollek­ti­vi­tät ist ein Grund­be­dürf­nis des Menschen. Dass wir Herden­tiere sind, ist nicht nur eine leere Weis­heit, sondern wahr. Doch weil immer mehr Menschen allein leben, wach­sen die Ersatz­be­frie­di­gun­gen. Schnel­ler, unver­bind­li­cher Sex, Partys, verdum­mende Fern­seh­se­rien, Konsu­mie­ren von über­flüs­si­gen Dingen, die einem trotz­dem nicht das Gefühl geben, irgendwo dazu zu gehö­ren. Selbst wenn man jung ist und schön, oder sich zumin­dest so stylt, hat man keine Chance. Andere Dinge sind wich­tig, unver­bind­li­che Ober­fläch­lich­kei­ten.

Wenn man etwas ande­res will, muss man sich auf andere einlas­sen, muss gemein­same Struk­tu­ren aufbauen, Häuser, Betriebe. Man muss bereit sein, mit ande­ren zu teilen.
Es fängt im Klei­nen an. Aber es muss nicht klein blei­ben.

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3 Kommentare

  1. hallo. ich schreibe dir hier aus wien. du kennst mich nicht, aber ich dich ein biss­chen. ich bin ein alter freund von paul ********, viel­leicht erin­nerst du dich noch an ihn. unge­fähr 1980 ward Ihr eine weile zusam­men. er hat mir immer wieder von dir erzählt und dass er sehr stolz war, dich zu kennen. seit 1999 hat er hier oft mitge­le­sen. Ich habe ihm immer wieder gesagt, melde dich doch mal. ich weiß nicht warum er es nicht gemacht hat. nun ist es leider zu spät, paul ist am frei­tag gestor­ben. Ich will, dass du wenigs­tens darüber bescheid weißt.

  2. Danke für die Nach­richt. Ja, ich erin­nere mich natür­lich an ihn. Ich würde gerne mehr wissen. Viel­leicht schreibst Du mir ja mal Deine korrekte Mail­adresse. Ich würde gerne viel mehr wissen.

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