Von Kreuzberg nach Pergamon

Von Kreuz­berg nach Perga­mon. Unter den Linden, hinterm Lust­gar­ten, an der Spree. Am Anhal­ter Bahn­hof waren wir hinab­ge­stie­gen. Die Ruine, der übrig­ge­las­sene kleine Teil von Schwech­tens klas­si­schem Bahn­hofs­ge­bäude, sieht älter aus als der Tempel von Perga­mon im Museum, der Markt­platz von Milet, das Baby­lo­ni­sche Tor. Sie ist aber nicht älter. Sondern ziem­lich gleich­alt­rig. Alles 19. Jahr­hun­dert. Das wissen wir noch nicht, als wir an diesem halb­grauen Donners­tag in die S1 stei­gen. Unter den Linden bauen sie in der Station Unter den Linden gerade eine Roll­treppe. Der Bahn­hof wacht lang­sam auf aus seinem sozia­lis­ti­schen Schlaf.
Früh­stück im “Einstein”, das unge­schickt möbliert ist, ganz anders als das Mutter­haus in der Kurfürs­ten­straße, das echter wirkt, weni­ger als ob. Freund­li­che Bedie­nung; eine schi­cke weiß-schwarze Frau mit jung­män­ni­schen Bewe­gun­gen bedient uns. Wiener Früh­stück, Eier im Glas. Wie macht man Eier im Glas rich­tig, müssen sie in ihrer Indi­vi­dua­li­tät noch erkenn­bar sein oder einge­quirlt in eine weiß-gelbe Kollek­ti­vi­tät? Nach Erör­te­rung dieses prak­ti­schen Themas spre­chen wir über die Evolu­tion. Wie kamen wir darauf? Das Programm Aufklä­rung sei geschei­tert? Gestern Abend im Bus: Eine arme alte Frau, mühsam an Krücken, gibt dem Busfah­rer 40 Pfen­nig Trink­geld, “weil Sie der erste sind, der heute nett zu mir war”, dann die müde Klage: “Uns nehm’ sie alles weg und schen­kens den Auslän­dern”. Und die Plakate der Repu­bli­ka­ner zur Nieder­sach­sen-Wahl. Selbst die USA, das auslän­der­freund­lichste Land der Erde, ist auslän­der­feind­lich. Aus einem Tiger wird kein Schwan. “Aber ich bleibe bei der Aufklä­rung”, sagt meine Freun­din entschlos­sen. Ich auch.
Zu der Utopie, die die Aufklä­rung vom Menschen erfand, gibt es keine annehm­bare Alter­na­tive. Nur: Opti­mis­mus ist nicht am Platz, Pessi­mis­mus erst recht nicht. “Guck mal, was sie hier machen!”, ruft meine Freun­din entsetzt aus. Sägen die Bäume vom Lust­gar­ten ab. “Sind längst alle tot”, sagt ein Vorüber­ge­hen­der, dessen Beglei­te­rin wohl auch gerade ausge­ru­fen hat; Guck mal, was die hier machen. Dürfen die das? Aber mit dem Tod dürfen wir uns wohl nicht beru­hi­gen; in der Zeitung steht: Es handelt sich um Schin­kel, Wieder­her­stel­lung, was der Histo­rien-Archi­tekt sich gedacht hatte, Geschichte mangels Gegen­wart. Hat Berlin kein Zutrauen zu seiner Gegen­wart?

“Ich möchte mal gerne wieder ins Perga­mon-Museum”, hatte meine Lebens­freun­din gesagt. “Mal sehen, ob es jünger gewor­den ist.” Damit meinte sie nicht die Umstel­lun­gen in den 90ern, die auch die stei­ner­nen Comics ein biss­chen geän­dert haben. Als Perga­mon noch in der DDR lag, haben wir mit ganz bestimm­ten Gefüh­len auf den Trep­pen geses­sen: ein kurzes Stück von Fried­rich­straße durch die Fried­rich­straße, immer vor uns auf die Fußspit­zen geguckt, damit das Bild vom ande­ren deut­schen Staat nicht ins Wanken käme, und schnell um die Ecke auf den Markt­platz von Milet, zwei­tes Jahr­hun­dert n.Chr. oder so, Hadrian war Kaiser, Grae­cu­lus, das Griech­lein, der Mann mit dem poli­ti­schen Bart. “Woher weißt Du das alles”, sagt meine Freun­din bewun­dernd, aber ich weiß es gar nicht.
Im Perga­mon-Museum ist immer noch viel DDR. Das Bewa­chungs- und Beob­ach­tungs­sys­tem ist eng, die Wach­mann­schaf­ten folgen uns auf Schritt und Tritt, mit miss­traui­schen Augen, gele­gent­lich geben sie einen knap­pen Befehl: “Nicht anfas­sen!”. Sitzen dürfen wir auf den Stufen von Perga­mon noch (weil sie wohl nicht aus Perga­mon sind), nicht anleh­nen. Unten steht: “Nicht blit­zen!”. “Nicht drücken!” heißt der Impe­ra­tiv für die Pissoirs.
Als Schwech­ten in Kreuz­berg seinen schö­nen Bahn­hof baute für die Anhal­ter Bahn, gruben Weig­and und Knack­fuß, Humann und Conze in der Türkei im Schutt.
Türkei? Das Ausge­gra­bene ist grie­chisch oder römisch: Welt­reichs­reste, alles durch­ein­an­der, Welt­reichs­ver­zie­rung, Berlin wollte Welt­stadt sein, vorne die Eisen­bahn, hinten die Kultur. Wenn auch geklaut. Die Prospekte bemer­ken mit verdäch­ti­ger Eilfer­tig­keit: “mit Zustim­mung der türki­schen Regie­rung”. Als ich ein Kind war und mein Vater Urlaub hatte vom Welt­krieg, durfte ich manch­mal zwischen ihm und meiner Mutter liegen (“Tele­phos und seine Mutter erken­nen sich in der Hoch­zeits­nacht”: so weit war es zuvor nicht gekom­men, aber der stei­nerne Mythos um das Säulen­haus erin­nert doch an manches); es gab zwei Spiele, das belieb­tere hieß: “Die Fahrt nach Rio de Janeiro”, da kamen wir nie hin wegen der Eisberge und der Stürme auf See; das andere hieß: “Entde­ckun­gen”, Schli­e­mann entdeckte Troja, wir gruben im Schutt und lern­ten Spra­chen aus Zeitun­gen, Humann entdeckte Perga­mon, wir klau­ten alte Steine und versteck­ten sie vor den türki­schen Poli­zis­ten. Humann war eigent­lich Tief­bau­in­ge­nieur, Stra­ßen­bau, “dann wurde er Räuber”, meinte mein Vater, “und berühmt.” Ich habe oft schon gedacht: Warum kleben sie nicht wenigs­tens ein Bild des Humann oben unter die Bilder von Tele­phos. In Prenz­lauer Berg gibt es einen schö­nen unan­ti­ken Platz, der nach ihm heißt. Aber er gehört doch hier­her, unter die Steine, die er, im Krieg zwischen seiner Mutter und seinem Vater liegend, geklaut hat.

Das Haus des Perga­mon-Muse­ums erzählt selbst eine Geschichte. Erst baute es Messel, aus Darm­stadt, ein mäch­ti­ger Bau-Vater der ersten Welt­stadt Berlin, die Ober­licht­halle der Staats­bank in der Behren­straße, der erste Licht­hof von Wert­heim am Leip­zi­ger Platz: das wären auch Unter­künfte für den Raub-Altar aus Perga­mon gewe­sen: Berlin, das neue Rom, die Cäsa­ren schrie­ben klas­si­sche Bücher über sich selbst (da kamen die preu­ßi­schen Wilhelme nicht ran), in der insu­lae hunger­ten die Skla­ven (das schaff­ten die Hiesi­gen auch: Acker­straße und nord­wärts). Die “Origi­na­li­tät selbst­stän­di­ger Köpfe wird durch das Studium des Über­lie­fer­ten nicht behin­dert”, schrieb Messel an Herwarth Walden, es erstaunt mich, dass er dem über­haupt geschrie­ben hat.
Es ist immer noch wie es war: Im Perga­mon-Museum sind wir in einer Grenz­sta­tion. Hier ist zwar kein ande­rer deut­scher Staat mehr, aber es geht immer noch vom 19. Jahr­hun­dert in ein ande­res. Der Altar, das Tor, die Pracht­straße sind alle­samt aus dem letz­ten Drit­tel des 19. Jahr­hun­derts.
Den Armen wegneh­men, was sie haben: Sieger­hal­tung, dadurch wird man Welt­macht. Deutsch­land ist es gewor­den, nicht lange geblie­ben. Sollte man das Isch­tar-Tor nicht zurück­brin­gen in den Irak. “Im Irak?”, fragt der Junge zwei­felnd seinen Vater, der eben mit eini­ger Mühe ermit­telt hat, dass Baby­lon im Irak liegt, “wo sie die Bomben hinschmei­ßen wollen?”.
Später sitzen wir im “Stre­se­mann”, blicken über unse­ren Milch­kaf­fee hinüber auf die Reste des Anhal­ter Bahn­hofs. Ich saß auf einem roten Inlett in einer Zink­ba­de­wanne, hoch im Gang eines Zuges, der nicht ausfah­ren wollte aus diesem Bahn­hof, als Bomben auf ihn zu fallen began­nen. Vor mehr als einem halben Jahr­hun­dert.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

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