Fünfhundert Meter Geschichte

Grünau und Wenden­schloss liegen sich an der Dahme gegen­über. Die Dahme heißt hier Langer See; der Lange See ist zwischen hundert­fünf­zig und sechs­hun­dert Meter breit. Von der Wasser­sport- zur Müggel­berg­al­lee gibt es für Perso­nen eine Fähre. Früher gab es auch eine Auto­fähre, zeit­weise eine Ponton-Brücke. Über eine feste Brücke wird disku­tiert. “Aber sie kommen nicht klar. In Span­dau bauen sie über­flüs­sige Brücken, aber hier baut keener wat”, sagt der Radfah­rer, der — wie ich — an dem klei­nen Bänkeplatz am Ende der Niebergall­straße Pause macht und aufs Wasser schaut. Er ist enttäuscht: “Seit der Wende geht alles den Bach runter. Früher ruder­ten hier Olym­pia­sie­ger und Welt­meis­ter. Es ist immer­hin eine Olym­pia­stre­cke”.
Die Geschichte ist in der Mehr­zahl genauer als in der Einzahl. Die Einzahl-Geschichte läuft auf unter­schied­li­chen Ebenen; bald aufwärts, bald hinab, je nach­dem, auf welcher Ebene man sie betrach­tet oder gar erlebt. Am Ende ihrer Geschichte war die Regat­ta­stre­cke von Grünau eine Olym­pia­stre­cke. Der enttäuschte Radfah­rer in der Niebergall­straße meint aber: am Anfang. Nach der Olym­piade von 1936 mit fünf deut­schen Siegen in sieben olym­pi­schen Ruder-Boots­klas­sen kamen wie viele Olym­pia­sie­ger und wie viele Welt­meis­ter, die die Fahne der DDR hoch­hiel­ten und zu Eislers aufhe­ben­der Melo­die auf die Trepp­chen stie­gen. Deutsch­land vorn.

Der Baumeis­ter der Grünauer Olym­pia-Anlage hieß Herbert Ruhl; er hat seine Sache gut gemacht, nicht geprotzt, “harmo­nisch” steht auch noch in den Büchern von jetzt. “Keine Regat­ta­bahn der Welt bot bislang solche Möglich­kei­ten”. Gut war das Wetter im Sommer 36 nicht, alle Entschei­dun­gen gegen den Wind, Wolken­brü­che am 14. August; trotz­dem säum­ten Zehn­tau­sende die Ufer und jubel­ten. “Inmit­ten seines begeis­ter­ten Volkes ragte die Gestalt des Führers hervor, dessen star­ker Wille das deut­sche Volk zu den größ­ten Taten befä­higt hat, und sicher gehör­ten diese Stun­den in Grünau zu den glück­lichs­ten seines unver­gleich­li­chen Lebens.” Von Verfüh­rung war hier nicht die Rede, sondern von Bereit­schaft. “Tief­ge­fühl­ter Dank gilt unse­rem Führer”, schrieb der NOK-Präsi­dent, ein ehema­li­ger preu­ßi­scher Staats­se­kre­trär, der hernach zyni­scher­weise Gele­gen­heit bekam, auch andere Seiten seines Führers tief zu fühlen. Für das ideo­lo­gi­sche Doping ist hinter­her niemand vor Rich­ter gezo­gen worden. Kaum ist in Deutsch­land die Demo­kra­tie weg, kommen die Sport­er­folge. Darin waren sich Nazi-Deutsch­land und die DDR ähnlich. Oder etwa nicht? Ist an diesem Vergleich irgend­et­was falsch? Der PDS-Kandi­dat für Köpe­nick bei der letz­ten Bundes­tags­wahl hat die Amnes­tie­rung von DDR-Funk­tio­nä­ren gerade mit der Begrün­dung verlangt, die Nazis hätten in der Alt-BRD auch weit­ge­hend Straf­frei­heit bekom­men. Da hat er Recht, und auch mit dem Vergleich hat er Recht. In Deutsch­land hat jeder Anspruch auf mora­li­sche Verkom­men­heit der Insti­tu­tio­nen. Wenn man aus der Geschichte lernen wollte, dann hieße die Lehre: Wider­stand lohnt nicht. Mitma­chen wird erst belohnt, und dann nicht allzu sehr verübelt. Jasa­gen — das ist das Posi­tive. Fünf Olym­pia­siege. Und später noch viele.

Die Möwen segeln auf mich zu, als woll­ten sie mir die zwei­feln­den Gedan­ken fort­schnä­beln. Zwei Schwäne glei­ten mir entge­gen, als hätten sie eine Botschaft. Ich stehe an diesem blau­him­me­li­gen Winter­tag auf dem Fähr­steg, warte auf den Fähr­mann, der mich über­setzt. Meine Gedan­ken sind erst schwarz wie die Bless­hüh­ner, die flügel­schla­gend übers Wasser laufen. Aber nach­dem ich eine Zeit­lang aufs Wasser und in die Sonne gese­hen habe, denke ich: Schö­ner kann es nicht sein. Ruhig und fried­lich. Je weni­ger man weiß, umso besser gehts einem.
Man kann die Geschichte des moder­nen Berlin auch als eine Geschichte der Villen­ko­lo­nien schrei­ben. Ganz rich­tig wird diese Geschichte nicht. Aber auch nicht falscher als andere Geschichts­ver­su­che. Dann finge man viel­leicht 1863 im Westen an: Villen­ko­lo­nie Alsen bei Stolpe, Wann­see, und im Osten lautete die Liste: 1870 Fried­richs­ha­gen, 1871 Hessen­win­kel, 1891 Wilhelms­ha­gen, 1892 Wenden­schloss. Manche — ich entnehme das den Gesprä­chen meiner Fähr­ge­nos­sen suchen das Schloss der Wenden, der Nicht-Deut­schen, oder ein Schloss gegen die Wenden, ein Deutsch­rit­ter­schloss, eine germa­ni­sche Vorburg, auch heute noch.
Man könnte sagen: da finden sie zwar nicht eines, aber viele. Es gibt hoch­präch­tige Villen hier. Ein Dahlem am Wasser. Wer am Ende des Möll­hau­sen­ufers steht (zum Beispiel da), wo es zwischen Wasser und Villen­pa­rade noch eine Park­wiese bildet, der sagt sich: Schö­ner kanns wirk­lich nirgendwo sein.
Und es stimmt auch — ganz gegen den Eindruck meines geschichts-melan­cho­li­schen Radfah­rers — nicht, dass hier nichts los ist. Ganz im Gegen­teil. Über­all wird reno­viert. Und neu gebaut. Ganz präch­tige Millio­nen­tem­pel sind hier entstan­den, in denen wohl schon die einzelne Eigen­tums­woh­nung Hoch­sechs­stel­li­ges kostet. Einem solchen Gebäude — viel­leicht nicht gerade dem meis­ter­lichs­ten, aber einem echten gelben Post­mo­der­ni­kum — ist auch das “Sport­haus Freund­schaft” zum Opfer gefal­len, Niebergall­straße 20. Viel­leicht war es nicht schade drum, viel­leicht sind auch noch ein paar archäo­lo­gi­sche Mauer­reste da. Wenn man sich etwa da hinstellt, wo es stand, und blickt zu Adolf Hitlers Olym­pia­tri­büne hinüber, und sucht den Führer des deut­schen Volkes auszu­ma­chen, wie er dasteht im Dunst der deut­schen Siege, dann kann man fühlen, von dort drüben hier­her­über: Dieser halbe Kilo­me­ter, das sind knappe neun Jahre Geschichte: Jubel­ge­schichte bis Tränen­ge­schichte. Hier, Niebergall­straße 20, trafen sich am 5. Juni 1945 Marschall Schu­kow, Gene­ral Eisen­hower, Feld­mar­schall Mont­go­mery und Gene­ral Lattre de Tassi­gny. In ihrer “Berli­ner Erklä­rung”, im “Wenden­schloss­do­ku­ment”, stell­ten sie fest: Deutsch­land ist geschla­gen, aufge­hört hat es nicht, aber jetzt wird es von den Alli­ier­ten regiert. Fünf­und­vier­zig Sommer lang war das so. Wenn man die Geschichte juris­tisch betrach­tet. Aber die Geschichte ist in Wirk­lich­keit viel kürzer. Wenn man will. Oder viel länger. Wenn man das will. Alles ist Inter­pre­ta­tion, Meinung. Dunst. Verges­sen ist süß und sonnig.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre)

Foto: Bundes­ar­chiv, Bild 183–19000-2079 / CC-BY-SA 3.0

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