Welche Berliner Straße?

Bahn­hof Zoo, Mitter­nacht, mindes­tens 50 Taxis warten noch auf Fahr­gäste. Offen­bar ist ein Zug ange­kom­men, die Menschen strö­men heraus, nur wenige kommen zu den Taxis, die meis­ten gehen vorbei zu den BVG-Bussen.
Ich beob­achte eine alte Dame, die unsi­cher aus dem Bahn­hofs­ge­bäude tritt und sich suchend umschaut. Sie hat einen klei­nen Koffer dabei und macht den Eindruck, als wäre sie das erste Mal hier. Lang­sam geht sie auf meinen Wagen zu, ich steige aus, um ihr den Koffer abzu­neh­men und ihr beim Einstei­gen zu helfen. “Mein Gott, ist das voll hier um diese Zeit. Ist denn in Berlin immer so viel los?” Ich muss lachen und erkläre ihr, dass es nur ganz kurz so ist, in ein paar Minu­ten wird der alte Bahn­hof wieder ruhig sein.
Dann sagt sie: “In die Berli­ner Straße bitte.” — “Gerne, in welche denn?”. Sie schaut mich an, als ob ich sie veral­bern will. “Gibt es denn mehrere Berli­ner Stra­ßen hier?”.

Ich erkläre ihr, dass mir auf Anhieb sechs einfal­len. Da ist sie platt und ratlos. Zu diesem Zeit­punkt bin ich noch opti­mis­tisch und frage sie, ob sie denn den Bezirk weiß oder die Post­leit­zahl. Aber beides kennt sie nicht. Sie will dort ihre Freun­din besu­chen und hat von ihr eine Handy­num­mer. Aber das Tele­fon der Freun­din ist ausge­schal­tet. Ich lasse mir den Namen der Freun­din geben und frage bei der Zentrale nach, ob sie weiter­hel­fen kann. Leider erfolg­los.
Dafür erfah­ren wir, dass es insge­samt acht Berli­ner Stra­ßen in der Stadt gibt. Die alte Dame ist nun völlig verzwei­felt und jammert nur noch, “um Gottes Willen, um Gottes Willen”. Ich schnappe mir mein Handy und frage selbst bei der Auskunft nach. Aber sie finden keinen Eintrag und auch über die Handy­num­mer der Freun­din bekom­men wir ihre Adresse nicht heraus.
Die alte Dame weiß leider nichts über die Gegend oder das Haus, außer dass es kein Einfa­mi­li­en­haus ist. Ich erkläre ihr, dass es nur eine einzige Berli­ner Straße in der Innen­stadt gibt und biete ihr an, dort hinzu­fah­ren und auf gut Glück nach­zu­schauen. So machen wir es auch, aber die Enttäu­schung ist groß: Der Name steht nicht am Klin­gel­schild.

Alle ande­ren Berli­ner Stra­ßen liegen in Außen­be­zir­ken, von Zehlen­dorf im Süden bis Fran­zö­sisch Buch­holz im Norden, die können wir nicht alle abfah­ren. Außer­dem ist es mitt­ler­weile 1 Uhr gewor­den und die Frau ist sehr müde. Sie beschließt, ein güns­ti­ges Hotel zu suchen und am nächs­ten Morgen wieder bei ihrer Freun­din anzu­ru­fen. Ein Hotel ist schnell gefun­den, sie bedankt sich über­schwäng­lich und sagt zum Abschied: “Danke, dass Sie mich mit dem Problem nicht allein gelas­sen haben.” Für mich war das selbst­ver­ständ­lich, der alten Frau zu helfen, auch wenn ich in der Zeit kaum was verdient habe. Taxi­fah­rer sind oft mehr als nur Perso­nen­be­för­de­rer. Manch­mal hilft man auch Menschen in klei­ner oder großer Not, das gehört mit dazu. Leider habe ich nicht erfah­ren, ob die Dame denn am nächs­ten Tag Erfolg gehabt hat.

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