10 • In unserem Haus gab es keine Räumungen

Vielen Menschen ging es schlech­ter, aber an Wohnungs­räu­mun­gen in unse­rem Haus, daran kann ich mich nicht erin­nern, ist nirgendwo eine Wohnung geräumt worden. Aber es ist sonst durch­aus vorge­kom­men, sicher, wenn die Miete nicht mehr bezahlt werden konnte.

Wir hatten im Haus sehr unter­schied­li­che Leute, der größte Teil waren Hand­wer­ker, die irgendwo arbei­te­ten. Vorne im Haus wohn­ten ein paar Beamte und unser Haus­ver­wal­ter nach­her, was der eigent­lich war, weiß ich nicht. Er war der erste Nazi in unse­rem Haus, Kriegs­ver­sehr­ter mit einem Bein. Meine Schwes­ter behaup­tete immer, das war nicht vom Krieg, das hat er sich beim Kapp-Putsch oder so was geholt. Jeden­falls hatte er ein Bein weg, ein Nazi irgend­wie. Was der war? Muss bei irgend­ei­ner Behörde gewe­sen sein, auch ein Beam­ter. Dann waren ein paar nette Beamte oben, unten im Haus war ein Kohlen­händ­ler, der selb­stän­dig war, der die Kohlen­hand­lung und ein Fuhr­ge­schäft hatte. Nebenan wohnte ein Lehrer, der aus West­preu­ßen raus musste nach dem 1. Welt­krieg, der wohnte mit seiner Fami­lie in der Laden­woh­nung.

Auf der ande­ren Seite wohn­ten in einem Laden Juden aus Russisch-Polen, die auch geflüch­tet waren, der Mann war Konfek­tio­när in einem Waren­haus. Das nannte man nicht Verkäu­fer, das nannte man Konfek­tio­när. Unser Nach­bar arbei­tete bei einer Juwe­lie­firma Unter den Linden, das war auch eine jüdi­sche Firma, der war als Tag- und Nacht­wäch­ter ange­stellt. Oben drüber der war Schuh­ma­cher, über uns der war Arbei­ter, arbei­tete bei Siemens. Dann war einer noch bei der Post, Brief­trä­ger. Ja, und hinten, da war einer Maurer, einer Schlos­ser, auch ein unge­lern­ter Arbei­ter, eine Frau, die im Büro arbei­tete, Krie­ger­witwe war vom 1. Welt­krieg, eine andere, die auch Krie­ger­witwe war, die arbei­tete auch irgend­was, war dann wieder verhei­ra­tet. So in etwa, ja?

In unse­rem Haus gab es keine Räumun­gen. Die Hand­wer­ker, das waren ja alles Leute, die schon im Krieg waren, die alle zu der Zeit schon Fami­lie hatten, zwischen 40 und 50 Jahren, die waren alle eigent­lich nicht arbeits­los. Die arbei­te­ten alle. Unser Nach­bar wurde nach­her arbeits­los, aber aus dem Grunde, weil die Firma, bei der er da war, war eine große, jüdi­sche Juwe­lier­firma in Berlin. Die hatten ein riesen­gro­ßes Geschäft mit zehn Schau­fens­tern, ein Riesen­ding, ich komme nicht mehr auf den Namen, und die sind dann wegge­gan­gen, und da wurde er arbeits­los. Der war eine ganze Zeit lang arbeits­los, aber irgend­wie sind die auch über die Runden gekom­men. Da war noch der Opa, der bei ihnen wohnte, der arbei­tete bei Bolle noch als Pfer­de­pfle­ger. Irgend­wie lief es immer weiter.

Das Haus gehörte einem Privat­mann, der hatte diesen Verwal­ter. Wem es genau gehörte, weiß ich gar nicht. Die Miete, die hat die Portier­frau kassiert, nicht mal der Verwal­ter. Der Verwal­ter, der wohnte vorne, die Portier­frau wohnte hinten, die hat die Miete kassiert, mit Miet­buch.

Hilde­gard Schön­rock: Wir kamen gerade so hin
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