17 • In der Nazi-Zeit

Die ersten Nazi­fah­nen — so weit ich mich erin­nere — hingen in der Bandel­straße raus. Aber Jugend, also rich­tig so Jugend, haben wir eigent­lich nie gese­hen. Das waren dann alles eben SA-Leute oder so, aber Jugend? Mit der Hitler-Jugend, das muss nach der Macht­er­grei­fung sehr schnell irgend­wie da von denen orga­ni­siert worden sein. Aber vorher merkte man eigent­lich nichts. Obwohl der Bezirk Tier­gar­ten ja durch­aus kein sozia­lis­ti­scher Bezirk oder so was war. Er war ja durch seine Bevöl­ke­rungs­struk­tur, dadurch, dass dann das Hansa­vier­tel und so weiter war, war ja da auch ne Menge bürger­li­cher Leute, die da wohn­ten. Beamte und viele Geschäfts­leute, darun­ter sehr viel Juden. Denn umsonst haben sie die große Synagoge damals Ecke Jagow­straße nicht gehabt.

Die Ergeb­nisse am 31. Januar 1933, das war ganz komisch. Ich weiß noch genau, ich meine, Radio oder so was gab es ja nicht. Meine Schwes­ter, die war an dem Tag in der Oper. Ich weiß nicht, ob mein Bruder auch da war, die kam nach Hause und sagte: “Mensch, also, es war ja furcht­bar.” Da in der Stadt, die haben das noch so halb mitge­kriegt, den Fackel­zug Unter den Linden. Dadurch hörten wir über­haupt erst was davon.
Also vorher, dass das nun irgend­wie … wie sollte man das auch erfah­ren? Im “Vorwärts”, den wir lasen, stand vorher vom Fackel­zug nichts, viel­leicht im “Angriff” oder im “Völki­schen Beob­ach­ter”, aber die haben wir ja nicht gele­sen.

Als Hitler an der Macht war, wurde der Sport­ver­ein verbo­ten, die “Arbei­ter­ju­gend” wurde verbo­ten, die ganzen Verbände wurden verbo­ten, alle Gewerk­schafts­häu­ser besetzt, alle Partei­häu­ser besetzt und so weiter. Mit einem Moment war alles plötz­lich vorbei. Da stand man nun da und, und wusste über­haupt nicht, was man machen sollte, so unge­fähr. Man hat ja immer gedacht, na ja, es wird irgend­was dage­gen unter­nom­men, aber es kam ja nichts. Ich meine, man versuchte zuerst immer­hin noch weiter­zu­ma­chen, wir haben uns getrof­fen und sind sonn­tags auf Fahrt gegan­gen, und es wurden ja irgend­wel­che, nicht direkt Flug­blät­ter, aber so kleine Broschü­ren oder so was zusam­men­ge­stellt, wo alles mögli­che so bekannt gege­ben wurde. Ja, bis es denn soweit war, bis die ersten verhaf­tet wurden. Ich meine, ein Teil wurde ja gleich verhaf­tet.

Ich weiß, dass zum Beispiel von Moabit mehrere in einen Prozess verwi­ckelt waren, die zum Teil zu länge­ren Haft­stra­fen verur­teilt wurden und nach­her während des Krie­ges in das Straf­ba­tail­lon 333 gesteckt wurden, als man sie dann als Solda­ten wieder brauchte. Ich weiß von einem, der auf Kreta einge­setzt wurde, der nicht wieder gekom­men ist und noch ein ande­rer, wo der war, weiß ich nicht, ist auch nicht wieder­ge­kom­men. Das waren jüngere, damals so um die 20 rum, Anfang 20.

Bis zum Krieg haben wir uns eigent­lich immer noch ab und zu getrof­fen. Da war zum Beispiel der frühere “Junge Chor” in Berlin. Die hatten in der Sing­aka­de­mie immer in jedem Jahr irgend­ein Chor­kon­zert. Und das war auch so ein Treff­punkt, da traf sich alles, was so am Rande noch über­all so hing, das ging dann dahin. Das wuss­ten die Nazis auch ganz genau, das wurde immer über­wacht. Aber sie haben eigent­lich nie jeman­den raus­ge­holt.

Wir hatten immer noch eine Verbin­dung, wir sind immer zur soge­nann­ten Paet­zer Heide gefah­ren, das liegt südlich von Königs Wuster­hau­sen. Und zwar war das mal ursprüng­lich Frei­kör­per­kul­tur­sparte der “Freien Turner­schaft Groß-Berlin”, das war auch ein Arbei­ter­turn­ver­ein. Und da war eben eine Gruppe diese Frei­kör­per­kul­tur­sparte, und die hatten am Paet­zer Hinter­see ein soge­nann­tes Gelände, wie man so sagte, zum Hinfah­ren. Und da waren noch aus den frühe­ren Jahren so alle mögli­chen Leute. Und da traf man sich dann auch immer noch so. Das ging bis zum Kriegs­ende so — man kannte ja seine Leute.

Am 1. April 1934 sind wir aus Moabit weg zum Wedding verzo­gen. Mein Vater und mein Bruder, die fühl­ten sich nicht mehr sicher. Die dach­ten, als sie die ande­ren da abge­holt hatten, da holen sie uns viel­leicht auch noch ab. Mein Vater war außer­dem im Reichs­ban­ner und war ziem­lich groß, und er trug immer die Fahne. Und er fühlte sich eben unsi­cher, und wir sind dann lieber wegge­zo­gen. Bei uns im Hause waren ja auch welche, die bis dahin eigent­lich treue Kommu­nis­ten waren und plötz­lich ne Haken­kreuz­fahne raus­häng­ten. So was gab es ja auch.

Nach­her hatten wir eigent­lich zu unse­ren Leuten da aus dem Haus weiter keine Verbin­dung. Zu eini­gen schon noch, aber größ­ten­teils durch meine Mutter. In der Paet­zer Heide waren alle mögli­chen, waren welche aus Moabit, waren welche aus Lich­ten­berg, waren welche aus dem Prenz­lauer Berg, waren eine Menge, und Neukölln, aus allen mögli­chen Rich­tun­gen.

Gott sei Dank hatte ich Arbeit bei einer Firma, die keiner­lei Wert darauf legte, als natio­nal­so­zia­lis­tisch zu gelten. Mein Chef war so ein alter Kaiser­treuer, und der hatte mit denen gar nichts im Sinn. Und verlangte von uns auch gar nichts. Und bei uns war es auch nicht üblich, “Heil Hitler” oder sonst irgend­was zu sagen. Wir haben uns immer so durch­ge­schlän­gelt. Bis 1939, und denn habe ich noch andert­halb Jahre bei einer ande­ren Firma gear­bei­tet, aber das war ganz ulkig: Der Chef, der hatte da so ein oder zwei Nazis, die er so als Aushän­ge­schild hatte. Und all die ande­ren? Ich hab da im April 1939 ange­fan­gen und ich muss Ihnen ehrlich sagen, so inner­halb ganz kurzer Zeit habe ich raus­ge­kriegt, und die haben das wahr­schein­lich auch mit mir raus­ge­kriegt, wem man trauen kann, und wem man nicht trauen kann. Da war der eine junge Kollege, der war früher im “Arbei­ter­turn- und Sport­bund” und der andere Kollege, der war zum Beispiel hier in Rüdnitz bei der Fleisch­ver­nich­tungs­an­stalt, da war er Direk­tor, der ist entlas­sen worden, weil er Sozi­al­de­mo­krat war, arbei­tete bei uns als Pauser. Und das kriegte man eigent­lich irgend­wie raus.

Na ja, dann nach dem Krieg, da hat sich so eini­ges wieder gefun­den, man hat sich dann wieder mal getrof­fen, die alten Leute. Manch­mal haben wir uns getrof­fen, aber … na ja, so große Inter­es­sen, die hat man auch nicht mehr, man erzählt sich dann bloß noch was aus der Jugend­zeit.

[ Ende ]

Hilde­gard Schön­rock: Wir kamen gerade so hin
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